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Gesundheit: Wasser ist nicht H2O

Berliner Forscher machen Entdeckung bei Kurzzeitmessungen

Wasser ist H2O, das weiß doch jedes Kind: Ein Sauerstoffatom wird von zwei Wasserstoffatomen belagert. Doch nun müssen die Schulbücher neu geschrieben werden: Wasser hat manchmal nicht zwei, sondern nur 1,5 Wasserstoffatome. Bei Experimenten mit sehr schnellen Neutronen fanden Berliner Forscher heraus, dass sich ein Wasserstoffatom unter Beschuss teilweise unsichtbar macht. Das Proton zeigt Welleneigenschaften, wie es die Quantentheorie vorhersagt.

Bisher war der „Welle-Teilchen-Dualismus“ vor allem bei Elektronen zutage getreten. Für Atomkerne spielte er in der Chemie bislang nur eine untergeordnete Rolle. „Die Stoßzeit zwischen den Neutronen des Beschusses und dem Proton des Wasserstoffs lag in Größenordnungen zwischen einem Milliardstel und einem Millionstel einer Milliardstelsekunde“, erklärt Aris Chatzidimitriou-Dreismann, Forscher an der Technischen Universität Berlin. „In diesem Attosekundenbereich können offenbar auch die Protonen der Wasserstoffatome Welleneigenschaften annehmen.“ Das einfache Modell aus einem Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffkernen gilt bei dieser ultraschnellen Betrachtung nicht mehr.

Die gesamte Physik und Chemie basieren auf der Vorstellung, dass die Materie aus Atomen besteht. Diese wiederum bestehen aus einem Kern mit einer bestimmten Anzahl von Protonen und Neutronen, den Elektronen umschwirren. Elektronen sind negativ geladen, Protonen positiv. Die elektrische Anziehungskraft hält das Atom zusammen.

Anfang des 20. Jahrhunderts begann mit Max Planck das Zeitalter der Quantenphysik. Demnach zeigen die Teilchen unter Umständen auch die Eigenschaften von Wellen. Die Elektronen als Teilchen halten sich beispielsweise zu jedem Zeitpunkt nur an einem bestimmten Ort der Umlaufbahn um den Atomkern auf. Elektronen als Welle sind dagegen gleichzeitig auf der ganzen Umlaufbahn zu finden.

Der Physiker Erwin Schrödinger beschrieb dieses paradoxe Phänomen einmal mit einer Katze, die zugleich lebendig und tot ist. Schrödingers Katze ist ein Zombie. Das Proton im Kern des Wasserstoffatoms offenbar auch. Für ein unvorstellbar kurzes Zeitintervall hört es auf, ein festes Teilchen zu sein und zerfließt statt dessen zur Welle. Dies kann einen neuartigen Effekt der Quanteninterferenz zur Folge haben: Der Kern „verschwindet“.

„In den Lehrbüchern der Chemie oder auch der Neutronenphysik werden die Atomkerne üblicherweise wie klassische Teilchen behandelt“, sagt Aris Chatzidimitriou-Dreismann. „Das lässt sich nun nicht mehr aufrechterhalten.“ Schon 1993 hatte er den Effekt vorausgesagt. Zwei Jahre später erfolgte die erste experimentelle Überprüfung an einer Spallationsquelle am Rutherford Appleton Laboratorium in England.

Solche Quellen liefern die schnellen Neutronen, die für den Beschuss gebraucht werden. Die britische Neutronenquelle ist die derzeit leistungsfähigste der Welt. Je schneller die Neutronen sind, desto kürzere Zeitintervalle lassen sich damit ausmessen. Weil mehrere Forscher den Messergebnissen nicht trauten, wurde das Experiment in den vergangenen Jahren mehrmals wiederholt.

„Die Attosekundenphysik ist bislang kaum erforscht“, erläutert der Wissenschaftler. „Aber aus der Messung der Anzahl der gestreuten Neutronen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass effektiv 25 bis 30 Prozent weniger Protonen im Wasser sind, als es nach der herkömmlichen Formel zu vermuten wäre.“

Kürzlich machte der Physiker Maarten Vos von der Australian National University in Canberra ähnliche Versuche, bei denen er schnelle Elektronen auf ein Polymer namens Formvar schoss. Dieser Kunststoff, ein Polyvinyl, dient zum Beispiel als Isolation für Stromkabel. Er enthält in seiner chemischen Struktur ebenfalls unzählige Wasserstoffatome. Dabei machte Vos eine ähnliche Entdeckung wie die Experimentatoren in England. In Formvar „verdrückten“ sich sogar bis zu 50 Prozent der Protonen als Folge ihrer Quantennatur.

Vor vier Jahren erhielten Wissenschaftler einen Nobelpreis für experimentelle Untersuchungen mit Kurzzeitlasern. Jetzt steht die Forschung an der neuen Schwelle zur Attosekunde, die noch etwa tausendmal kürzer ist als die schon so winzige Femtosekunde.

„Die Ergebnisse unserer Experimente haben wir erst vor wenigen Wochen auf der ersten Konferenz zu Attosekunden-Physik an der Harvard-Universität vorgestellt“, sagt Aris Chatzidimitriou-Dreismann. „Dieses Forschungsgebiet ist ganz neu. Wir dürfen gespannt sein, welche Überraschungen es noch bringen wird.“

Heiko Schwarzburger

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