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Gesundheit: Weißt du, wie viel Schrott dort oben?

Zahllose Bruchstücke von Raketen und Satelliten gefährden die Raumfahrt. Aber auch die Erde ist bedroht

Von Rainer Kayser, dpa

Das Unglück geschieht ohne jede Vorwarnung. Mit einer Geschwindigkeit von 50 000 Kilometern pro Stunde durchschlägt ein wenige Zentimeter großes Metallstück die Druckkabine der an die Internationale Raumstation angekoppelten Raumfähre. Die schlagartige Dekompression zerstört nicht nur das Space Shuttle, sondern auch einen Teil der ISS. Die bemannte Raumfahrt kommt für Jahrzehnte zum Erliegen.

Ein völlig abwegiges Horrorszenario? Genau weiß das niemand. Doch eine Expertengruppe der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa ist unlängst zu dem Schluss gekommen, Weltraummüll stelle eine größere Gefahr für die amerikanischen Raumfähren dar als technische Pannen beim Start und bei der Landung. Dabei sind mehrere Zentimeter große Schrottteile am bedrohlichsten: Zu groß für wirksame Schutzmaßnahmen, zu klein, um durch die Überwachungsradars am Erdboden erfasst zu werden.

In den Kindertagen der Raumfahrt dachte niemand an Müllvermeidung: Ausgediente Raketenstufen wurden einfach in der Erdumlaufbahn zurückgelassen. Mit schlimmen Folgen: In vielen Fällen entzündete sich der Resttreibstoff irgendwann von selbst und führte zu einer Explosion, die die Raketenstufe in eine unüberschaubare Anzahl kleiner Trümmerstücke zerfetzte. Insgesamt gab es in den letzten 50 Jahren fast 200 Explosionen in der Erdumlaufbahn, die Hälfte davon waren ausgediente Raketenstufen. Hinzu kommen steuerlos umhertreibende tote Satelliten, von Raumfahrern verlorenes Werkzeug, abblätternde Farbe.

Über 10 000 Trümmerstücke größer als zehn Zentimeter haben die Überwachungsradars der Amerikaner und der Europäer inzwischen im erdnahen Weltraum bis zu 2000 Kilometern Höhe erfasst. Wie groß die Zahl im gefährlichen Bereich zwischen einem und zehn Zentimetern ist, weiß niemand genau – mehr als 100 000 befürchten Experten.

Noch unklarer ist die Situation im „geostationären Ring“ in 36 000 Kilometern Höhe. Dort sind Fernseh- und Telekommunikationssatelliten stationiert, da die Umlaufzeit in dieser Höhe genau 24 Stunden beträgt – die Kunstmonde stehen also stets über dem gleichen Ort auf der Erde. Für die Überwachungsradars ist diese Zone zu weit entfernt.

Über 3000 Objekte mit Größen unterhalb von einem Meter haben die Forscher dort inzwischen aufgespürt – mit deutlichen Hinweisen auf eine erheblich größere Zahl kleinere Trümmerstücke. Das Problem: Im erdnahen Raum kann Weltraumschrott in die Atmosphäre eintreten und verglühen. Im geostationären Ring aber bleibt er ewig. Doch auch im erdnahen Weltraum können Nasa und Esa, die europäische Weltraumbehörde, nicht bloß auf die Selbstreinigungskräfte des Alls vertrauen. Denn bis der gesamte, jetzt vorhandene Müll durch die geringe Reibung der hauchdünnen Restatmosphäre abgestürzt wäre, würden Jahrtausende vergehen.

Was der Weltraumschrott anrichten kann, lässt sich dagegen schon jetzt beobachten. Esa-Forscher Gerhard Drolshagen hat ein Sonnenpaddel des Weltraumteleskops Hubble untersucht, das 2002 nach acht Jahren im All ausgetauscht und zur Erde zurückgebracht wurde. „Die 0,7 Millimeter dicken Solarzellen waren an 174 Stellen komplett durchschlagen. Die Krater waren bis zu acht Millimeter groß“, so der Wissenschaftler.

Bereits 1993 hatten die Astronauten der ersten Reparatur-Mission ein zentimetergroßes Loch in der Antenne des Hubble-Teleskops gefunden: Ein Trümmerstück hatte die Antennenschüssel durchschlagen – glücklicherweise, ohne ihre Funktion zu beeinträchtigen. Bei fast jedem Flug der amerikanischen Raumfähre muss die Nasa anschließend ein oder mehrere Fenster wegen kleiner Schäden durch winzige Trümmerpartikel austauschen.

Wie gefährlich der Weltraumschrott ist, zeigte sich auch im Juli 1996. Damals wurde der französische Spionagesatellit Cerise von einem Trümmerstück getroffen und schwer beschädigt. Wie viele Ausfälle von Satelliten auf das Konto des Weltraummülls gehen, weiß niemand. Die Experten der Raumfahrtbehörden sind sich deshalb einig: Es ist höchste Zeit, etwas zu tun, sonst könnte in nicht allzu ferner Zukunft zumindest der erdnahe Weltraum unpassierbar werden. Vorrang haben dabei derzeit Maßnahmen, die ein weiteres Anwachsen des Müllbergs im Orbit zu vermeiden helfen.

So soll bei Raketenstufen Resttreibstoff entweder abgelassen oder verbrannt werden. Zudem fordern die Fachleute, beim Aussetzen von Satelliten darauf zu achten, dass keinerlei Teile freigesetzt werden, wie etwa Abdeckungen von Instrumenten. In der Vergangenheit wurden solche Abdeckungen häufig einfach abgesprengt. Ausgediente Satelliten sollten gezielt zum Absturz oder in eine höhere „Friedhofs-Umlaufbahn“ gebracht werden.

Alle diese Maßnahmen dienen aber nur dazu, eine weitere Zunahme des Weltraummülls zu verhindern. Die Fehler der ersten 50 Jahre Weltraumfahrt sind in naher Zukunft nicht wieder gutzumachen. Zwar gibt es auf dem Reißbrett eine Reihe von Ideen zur Beseitigung des Weltraumschrotts – etwa durch Einfangen oder durch Beschuss mit Laserstrahlen. Doch diese Ideen sind teuer und bislang nicht praktikabel. Vorerst müssen Raumfahrer also mit dem vorhandenen Risiko leben. Deshalb dreht sich die gesamte Weltraumstation nach dem Ankoppeln eines Shuttles „in den Wind“, um mit ihren besser gegen Weltraumtrümmer abgeschirmten Strukturen die Fähre vor Einschlägen zu schützen.

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