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Gesundheit: Wenn der Tod Vielfalt schafft

Vor 250 Millionen Jahren vernichtete eine Katastrophe drei Viertel aller Arten. Doch das Leben erwachte neu – und wurde komplexer

Eigentlich lief es in den Weltmeeren optimal für die Seelilien und die ein wenig den modernen Muscheln ähnelnden Armfüßer, die Spezialisten – wie Wolfgang Kießling vom Naturkundemuseum der Berliner Humboldt-Universität – unter dem Fachbegriff Brachiopoden zusammenfassen: In vielen Jahrmillionen hatten sich diese Organismen optimal an ihre Umwelt angepasst, hefteten sich fest an eine Oberfläche und filterten ihre Nahrung einfach aus dem vorbeiströmenden Wasser. Mit dieser Strategie waren manche Seelilien und Brachiopoden so erfolgreich, dass sie in vielen Lebensräumen ihre Konkurrenz mit Abstand auf die Plätze verwiesen – andere Arten kamen erheblich seltener vor.

Vor 250 Millionen Jahren aber änderte sich diese Situation gründlich, als sich in einem Landstrich, der heute Sibirien genannt wird, buchstäblich die Hölle auftat. In wenigen hunderttausend Jahren quollen dort damals einige Millionen Kubikkilometer Lava aus dem Boden. Noch heute bedeckt eine kilometerdicke Basaltschicht zwischen den Flüssen Ob und Lena eine Fläche, die weit größer ist als die Bundesrepublik. Austretende Gase verwandelten den Globus zu jener Zeit zunächst in ein gigantisches Kühlhaus und danach in eine überdimensionale Sauna.

Ob diese sibirischen Basaltfelder wirklich die Ursache des darauf folgenden Massenaussterbens waren, darüber streiten die Fachleute noch. Über die Folgen des Ereignisses sind sich allerdings alle einig: Mit 76 Prozent wurden mehr als drei Viertel aller Gattungen vom Globus gewischt, über 90 Prozent aller Arten verschwanden und sollten nie mehr auftauchen. Es war vermutlich das größte Artensterben aller Zeiten.

Den Trilobiten genannten Tieren – mit einem Panzer an Kopf und Schwanz und einem sehr beweglichen Körper – läutete endgültig das Totenglöckchen, und Seeskorpione gibt es seit dieser Zeit ebenfalls nicht mehr. Die Brachiopoden hat es bei der Katastrophe anscheinend noch stärker erwischt als die ebenfalls hart getroffenen Muscheln, denn als auf der Erde wieder Ruhe einkehrte, konnten sich die wenigen noch lebenden Muscheln relativ schnell erholen. Während vor der großen Katastrophe vor 250 Millionen Jahren der Meeresboden vor Leben wimmelte, wirkte er nachher wie leer gefegt. Erst nach einigen Jahrmillionen hatte sich das Leben im Meer wieder erholt – und deutlich verändert.

In dieser ohnehin dramatischen Geschichte vom Aussterben fast aller Arten aber steckt auch noch eine wissenschaftliche Sensation, die Peter Wagner vom Fields Naturgeschichtemuseum in Chicago und seine Kollegen in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science aufdecken (Band 314, Seite 1289).

Lange Zeit gingen Paläontologen davon aus, dass die Lebensgemeinschaften im Laufe der Jahrmillionen nicht nur immer vielfältiger und komplexer wurden, sondern dass dieser Prozess auch relativ gleichmäßig verlaufen sei. Ein grober Blick auf die Fossilien scheint diese Annahme prompt zu bestätigen: Je weiter eine Periode in der Vergangenheit liegt, umso weniger Arten und Gattungen kennen Forscher aus dieser Zeit. Mit gutem Grund wird diese schlichte Annahme seit langem angezweifelt, erklärt Wolfgang Kießling vom Berliner Naturkundemuseum: „Je jünger ein Fossil ist, desto leichter bleibt es erhalten.“ Aus der jüngsten Vergangenheit sollten es also viel mehr Überreste von Arten bis in die Naturkundemuseen der Welt geschafft haben als aus länger vergangenen Zeiten. Einfach die Arten zu zählen und aus ihrer absoluten Zahl auf die Vielfalt der Lebensgemeinschaften in der jeweiligen Zeit zu schließen, liefert kaum objektive Ergebnisse.

Peter Wagner und seine Kollegen greifen daher zu einem Trick und vergleichen, wie häufig in den Weltmeeren einfache Lebensgemeinschaften, in denen eine Art alle anderen mit großem Abstand dominiert, im Vergleich mit komplexen Lebensgemeinschaften waren, in denen mehrere Arten in ähnlichen Größenordnungen vorkommen. Viele Jahrmillionen lang gab es ungefähr gleich viele solcher einfachen und komplexen Ökosysteme, wie eine Analyse von insgesamt 1176 Lebensgemeinschaften aus den letzten 540 Millionen Jahren zeigt. Als aber vor 250 Millionen Jahren gigantische Lava-Ausbrüche das heutige Sibirien verheerten, änderte sich dieses Verhältnis schlagartig: Plötzlich waren in den Meeren die komplexen Lebensgemeinschaften ungefähr dreimal häufiger als die einfachen. Damit ist – zumindest für die Weltmeere – die Theorie von der stetigen Zunahme komplexer Ökosysteme wohl endgültig vom Tisch.

Die schlagartige Änderung der Klimaverhältnisse hat damals paradoxerweise die Arten am härtesten getroffen, die ihrer Umwelt am besten angepasst waren und sich so die Konkurrenz vom Leib hielten, vermutet Wolfgang Kießling. Als die einfachen Ökosysteme aber ausfielen, musste sich das Leben etwas einfallen lassen. Dieses „Etwas“ war eine neue Vielfalt: Die seither die Meere dominierenden Muscheln, Schnecken und Seeigel kommen mit viel mehr unterschiedlichen Methoden an Nahrung als die Organismen, die vor der Katastrophe die erste Geige unter Wasser spielten.

Neben dem altbekannten Filtrieren von Nahrung aus dem Wasser graben heute manche Organismen im Untergrund aktiv nach Nahrung, weiden die Vegetation im Meer ab oder jagen andere Organismen in den Ozeanen. Durch diese Vielfalt aber entstanden sehr komplexe Lebensgemeinschaften, in denen viele Arten ähnlich häufig sind, die beinahe erdrückende Dominanz einzelner Arten früherer Zeiten ist seltener geworden und längst nicht mehr so ausgeprägt wie einst.

Einen ähnlichen Prozess könnte auch der Himmelskörper ausgelöst haben, der vor 65 Millionen Jahren in den Golf von Mexiko donnerte. Er wischte wohl nicht nur die Dinosaurier von der Landkarte, sondern löschte in einem anderen Massenaussterben auch viele weitere Arten aus. Ein paar Säugetiere überlebten die Katastrophe und mussten sich – genau wie 186 Millionen Jahre zuvor die Muscheln und Schnecken – etwas einfallen lassen. Ob damals an Land aber genau wie vorher bereits im Meer die Komplexität der Ökosysteme schlagartig zunahm, sollte bald einmal genauer unter die Lupe genommen werden, fordert Wolfgang Kießling im Wissenschaftsmagazin Science (Band 314, Seite 1254).

VORHER:

Im Permzeitalter, vor etwa 290 bis 250 Millionen Jahren, waren fast alle Meeresbewohner am Boden festgewachsen und filterten Nahrung aus dem Wasser. Freischwimmende Tiere waren selten, wie das Schaubild (links) des Field Museums in Chicago zeigt.

NACHHER:

Lava-Ausbrüche änderten das Klima und vernichteten fast alle Arten. Danach bildete sich eine vielfältigere Lebensgemeinschaft aus Meerestieren, die sich auf verschiedene Weise ernährten – wie hier (rechts) am Beispiel der Kreidezeit dargestellt. dal

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