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Gesundheit: Wenn Tiere sich auseinanderleben

„Mysterium der Mysterien“: Genetiker versuchen, das Entstehen der Arten zu enträtseln

Es sind die scheinbar banalen Fragen, die am schwersten zu beantworten sind. Aus Anlass seines 125-jährigen Jubiläums rief das renommierte amerikanische Wissenschaftsmagazin „Science“ im Juli vergangenen Jahres namhafte Forscher dazu auf, nach Antworten auf 100 kleinere und 25 große Fragen der Wissenschaft zu suchen. Wie die unzähligen Tier- und Pflanzenarten auf unserer Erde entstanden sind, ist eine dieser großen, bisher offenen Fragen.

Die Entstehung der Arten bezeichnete schon der britische Naturforscher Charles Darwin vor nunmehr 150 Jahren als „Mysterium der Mysterien“. Auch für ihn blieb die Aufspaltung der Lebewesen in immer wieder neue und anders gestaltete Formen ein ungelöstes Geheimnis der Natur. Mit seiner Transmutations-Theorie – die besagt, dass Arten sich durch ständige Umwandlung stets optimal an ihre Umwelt anpassen – überzeugte er zwar viele Forscher davon, dass Evolution stattgefunden hat und die natürliche Auslese (Selektion) der wichtigste Mechanismus des Artenwandels ist. Doch wie dieser Prozess genau abläuft, und was eigentlich eine Art in der Biologie ausmacht, konnte auch Darwin in seinem Werk „Über den Ursprung der Arten“ nicht klären.

Seit Darwins Zeiten beißen sich Zoologen die Zähne an dieser Frage aus. Dass zur Entstehung neuer Arten tatsächlich mehr gehört als nur die natürliche Selektion – also die Tatsache, dass sich besser an die Umwelt angepasste Tiere erfolgreicher fortpflanzen als weniger überlebensfähige Artgenossen –, erkannten Evolutionsbiologen erst seit den 1940er Jahren. Die wichtigsten Beiträge dazu stammen von Ernst Mayr.

Der Evolutionsbiologe arbeitete nach der Promotion am Zoologischen Museum in Berlin und ging dann nach New York ans American Museum of Natural History, dem größten Naturkundemuseum der Welt. Vielfach wurde Mayr als der „Darwin des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Er stellte den Zusammenhang zwischen Darwins Evolutionstheorie und der modernen Genetik her und definierte einen Artbegriff, bei dem das wichtigste Kriterium für die Unterscheidung zweier Arten darin besteht, dass sich die Individuen zweier eng verwandter Tierpopulationen nur noch innerhalb ihrer eigenen Gruppe fortpflanzen können (reproduktive Isolation).

Auf der Basis einer Fülle von Befunden, die über Jahrzehnte aus verschiedenen Tiergruppen zusammengetragen wurden, hat Mayr dargelegt, dass für die Ausbildung neuer Organismen stets die räumliche Trennung durch geografische Barrieren entscheidend ist.

Solche Hindernisse können durch ein sich auffaltendes Gebirge, einen sich öffnenden Ozean oder die Unterbrechung eines einst zusammenhängenden Flusssystems entstehen und den Kontakt zwischen den sich allmählich trennenden neuen Arten unterbinden.

Während dieser geografischen Trennung entwickeln sich die Tiere der gleichen Art durch zufällige genetische Mutationen unterschiedlich. Nach einiger Zeit sind sie körperlich so verschieden, dass sie sich selbst dann nicht mehr mit den ehemaligen Artgenossen der anderen Gruppe paaren könnten, wenn sie wieder zusammenfinden würden, weil die geografische Barriere verschwindet. Mit Mayrs Arbeiten wurde die Vorstellung der „allopatrischen Artenbildung“ durch die Entfremdung zweier Populationen durch räumliche Trennung zum zentralen Teil der modernen Evolutionstheorie.

Da die Bildung neuer Arten sehr gemächlich abläuft, glaubte man lange Zeit, dass sich die Details kaum „live“ beobachten oder gar untersuchen lassen. Jüngst wurden Evolutionsbiologen jedoch eines Besseren belehrt.

Zu den besten Freiland-Laboratorien, die die Natur zu bieten hat, gehören neben ozeanischen Inseln auch Süßwasserseen wie etwa in Ostafrika oder in Mittelamerika. Dort können Zoologen der Evolution gleichsam über die Schulter schauen und beobachten, wie neue Arten entstehen. Dabei interessiert sie heute vor allem, ob der genetische Austausch auch zwischen Tieren, die gemeinsam im selben Verbreitungsgebiet leben, derart effektiv unterbrochen werden kann, dass sich auseinanderdriftende Populationen allmählich zu neuen Arten entwickeln.

Inzwischen mehren sich Hinweise darauf, dass einige Tierformen tatsächlich selbst dann wirkungsvolle Paarungsschranken zu ihren nächsten Verwandten errichten, wenn sie auf engstem Raum zusammenleben.

Eines der überzeugendsten Beispiele dafür fand erstmals der Münchner Fischforscher Ulrich Schliewen in zwei kleinen und ökologisch recht einförmigen Kraterseen in Kamerun. Schliewen hatte am Lake Bermin insgesamt neun Buntbarsch-Arten gefangen. Aus der Analyse der DNS-Sequenzen konnte er ablesen, dass der See nur ein einziges Mal von einer Gründerpopulation besiedelt wurde. Diese Ahnen der heutigen Buntbarsche (Cichliden) haben sich anschließend an Ort und Stelle in diverse Populationen aufgespalten, ohne sich untereinander noch zu verpaaren. In dem nur knapp 15 Meter tiefen und weniger als einen Quadratkilometer großen Kratersee gibt es weder räumliche noch ökologische Barrieren. Dennoch haben sich die Buntbarsche dort so auseinandergelebt, dass schließlich mehrere Tochterarten entstanden.

Die Studien von Schliewen lassen vermuten, dass dabei die Wahl der Weibchen, die stets nur bestimmte Männchen bevorzugen, eine entscheidende Rolle spielt. Das würde bedeuten, dass auch verhaltensbiologische Faktoren ein wichtiger Motor bei der Artenbildung sind.

Seitdem fahnden Evolutionsbiologen nach weiteren Beispielen für diese „sympatrische Speziation“, also die Artenbildung ohne räumliche Separation.

Dass bei der Bildung neuer Arten tatsächlich nicht immer äußere Barrieren und vergleichsweise lange Zeiträume notwendig sind, fanden auch Konstanzer Molekulargenetiker im Labor von Axel Meyer heraus. Sie verglichen das Erbgut und das Aussehen von Midas- Buntbarschen aus isolierten Kraterseen in Nicaragua.

In einigen mittelamerikanischen Seen neben dem großen Lake Nicaragua sowie in den kleinen Kraterseen Jiloa und Apoyo kommt jeweils ein Formenpaar vor, das sich in Schuppenfärbung sowie Bezahnung unterscheidet. Je nach Kieferstruktur haben diese Tiere etwas andere Vorlieben bei der Nahrung. Da Buntbarsche mit kräftigen Mahlzähnen bevorzugt Schneckenschalen knacken, vermuten die Forscher, dass es bei den Midas-Buntbarschen zur Ausbildung unterschiedlicher ökologischer Nischen kommt. Das bedeutet, dass sich die Tiere innerhalb des gleichen Lebensraumes auf eine bestimmte Lebensform spezialisieren, an die sie optimal angepasst sind. Wenn sich Gruppen von Fischen im gleichen See zum Beispiel auf unterschiedliche Nahrung fixieren, besetzen sie verschiedene ökologische Nischen und nutzen den Lebensraum dadurch optimal aus.

Auf diese Weise könnte es einzelnen Grüppchen in der Population gelingen, sich von ihren „Noch-Artgenossen“ allmählich abzugrenzen. Wenn die Weibchen dazu auch noch wählerisch sind, mit welchen Männchen sie sich verpaaren, würden die Gruppen sich noch schneller auseinanderleben. Offenbar hat der Artenbildungsprozess bei den Buntbarschen Nicaraguas aufgrund eines geringen Genaustausches zwischen den Gruppen bereits eingesetzt.

Viele Verfechter der Idee einer sympatrischen Artenbildung sehen sich zudem durch mathematische Modelle bestätigt. Studien deuten darauf hin, dass vor allem die jeweils sehr selektive Partnerwahl der Weibchen ein wirksamer Schrittmacher zur Entwicklung neuer Arten aus einer räumlich nicht getrennten Population sein könnte. Wie die Berechnungen zeigen, entstehen neue Tierarten dabei unter günstigen Bedingungen möglicherweise bereits nach nur etwa 300 Generationen. Die Krater-Seen in Nicaragua sind jünger als 8000 Jahre. Demnach hatten die Buntbarsche also selbst dort Zeit für ihr evolutives Auseinanderleben.

Vor allem in den großen Seen des ostafrikanischen Grabenbruchsystems haben Cichliden formenreiche Schwärme eng verwandter Arten hervorgebracht, die nach Hunderten zählen. Jetzt ist noch die Frage offen, ob sich die Ergebnisse der Forschung an den Buntbarschen auf andere Tiergruppen übertragen lassen. Darwins Mysterium aber ist schon etwas verständlicher geworden – aber nicht weniger wunderbar.

Der Konstanzer Biologe Axel Meyer hält am heutigen Dienstag um 18 Uhr in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt, Markgrafenstraße 38, einen Vortrag über „Die Entstehung neuer Arten“. Charles Darwins Werke sind im Original unter www.darwin-online.org.uk nachzulesen.

Matthias Glaubrecht

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