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Gesundheit: Wilde Mischung

Berlin ist nicht Finnland: Warum die Bildungsbürger dieser Stadt den Grund- und Gesamtschulen misstrauen

Die „Iglu“-Studie hat ergeben, dass deutsche Grundschüler, im internationalen Vergleich, mittelmäßig gut lesen können. Die Studie hat eine relativ dünne Basis, in Berlin fünf Schulen - aber vielleicht stimmt sie ja trotzdem. Die „Pisa“-Studie dagegen hat ergeben, dass deutsche Schüler, wenn sie ein paar Jahre älter sind, im internationalen Vergleich deutlich schlechter dastehen. Da seht ihr es, rufen jetzt Bildungspolitiker vor allem der SPD und der Gewerkschaft GEW. Grundschule gut. Gymnasium schlecht. Man darf die stärkeren von den schwächeren Schülern nicht trennen. Gesamtschulen müssen her. Wie in Finnland!

Klein und homogen

Die finnischen Schulen sind aber nicht deshalb so erfolgreich, weil sie Gesamtschulen sind. Man muss es immer wieder erklären: Finnland ist ein sozial und ethnisch relativ homogenes Land. Das macht alles einfacher. Die Schulen sind klein. Vierzig Prozent von ihnen haben weniger als fünfzig Schüler. Das tut vor allem den schwächeren Kindern gut. Die Schulen sind außerdem weitgehend autonom, sie dürfen sich zum Beispiel ihre Lehrer selbst aussuchen und haben viel Freiheit bei der Gestaltung der Lehrpläne. Und die Eltern dürfen sich eine Schule aussuchen, die ihrer Ansicht nach zu ihrem Kind passt. Finnische Schulen fordern die Kinder: erste Fremdsprache meist ab erster Klasse, spätestens in Klasse drei, zweite Sprache in Klasse 5, dritte in Klasse 7 – für alle. Der Leistungsdruck ist groß. Nach der 9. Klasse zum Beispiel entscheidet allein der Notendurchschnitt darüber, ob der Schüler für die Oberstufe zugelassen wird oder ob er eine Berufsausbildung beginnen muss.

Wenn wir das finnische System in Deutschland einführen, kommt nicht die 2000-Schüler-Gesamtschule mit flachem Leistungsprofil heraus, von der in der GEW manche seit 30 Jahren träumen. Im Gegenteil. Das Ergebnis wäre etwas, was den verhassten Privatschulen auffällig ähnlich sieht.

Aber der wirklich entscheidende Unterschied ist ein anderer. In Finnland berücksichtigt man, dass es in der Schule neben dem Lernen auch auf Persönlichkeitsbildung ankommt. Fast alle Schulen, auch die kleinen, beschäftigen deshalb neben den Lehrern eine Sozialpädagogin, eine Psychologin, eine Speziallehrerin und etliche Assistenten. In den kleinen Schulen sind diese Leute einen Tag in der Woche anwesend, in den großen ständig. Die Sozialpädagogen kümmern sich zum Beispiel um soziale Konflikte. Wenn es in einer Klasse Zoff zwischen rivalisierenden Cliquen gibt oder zwischen Mädchen und Jungen, muss sich nicht der Lehrer damit herumschlagen. Die Speziallehrer fördern die schwachen Schüler. Die Assistenten, es können Abiturienten oder Hausfrauen sein, springen ein, wenn ein Lehrer fehlt. Sie vermeiden, dass Stunden ausfallen.

Das einzige, was in Berliner Grundschulen an das finnische System erinnert, nämlich die Schulstationen, soll gerade abgeschafft werden.

In Berlin sind viele Grundschulklassen, auch viele Klassen in der Oberschule, ein sozialer Hexenkessel. In einer großen, armen Stadt wie Berlin kann es gar nicht anders sein. Die Schüler kommen aus allen möglichen Milieus, sie sprechen nicht die gleiche Sprache, in vielerlei Hinsicht. Die Lehrer haben alle Hände voll zu tun, die Voraussetzungen fürs Lernen zu schaffen. Sie werden dabei, anders als in Finnland, allein gelassen.

SPD und GEW plädieren besonders laut für sechs Jahre Grundschule und für Gesamtschulen, über die Voraussetzungen sagen sie nichts. Sie tun einfach so, als gäbe es da keinerlei Problem. Vielleicht löst sich das Problem ja von selbst, indem man es ignoriert? Oder, noch besser – vielleicht übernehmen ja die kleinen Professoren-, Ärzte- und Architektenkinder den Job, den in Finnland die Sozialpädagogen und die Speziallehrer tun?

Aber in den bürgerlichen Milieus der Stadt ist das Vertrauen in die Grundschule und in die Gesamtschule nicht sonderlich ausgeprägt. Sie flüchten ins Gymnasium und in Privatschulen. Nicht aus Sozialdünkel. Sondern weil sie wollen, dass ihre Kinder gefördert werden. So skandalös es in manchen Ohren klingt - auch der Professor und die Ärztin wollen, dass ihr Kind gefördert wird.

Terror der Jungmachos

Die Berliner Pädagogik-Professorin und „Iglu“-Mitherausgeberin Renate Valtin sagte im Tagesspiegel, sie wisse nicht, warum das Gymnasium einen guten Ruf genießt. Valtin gehört zu denen, die vom „kognitiven Sog von den Stärkeren zu den Schwächeren“ sprechen, den es an Gesamtschulen angeblich gibt. Diesen Sog gibt es leider auch in umgekehrter Richtung. Passt sich der schon mit zehn Jahren goldkettchenbehängte und handybestückte, nichtlesende, schulschwänzende Frühraucher an den Klassenprimus mit Klavierunterricht und relativ zivilen Umgangsformen an, oder läuft es umgekehrt? Oder übt der Jungmacho einfach ein Terrorregime über das Bürgerkindchen aus?

Wovon hängt das ab? Der gesunde Menschenverstand und die Erfahrungen der Lehrer sagen: Es hängt vor allem von den Mehrheitsverhältnissen in der Klasse ab. Ein oder zwei schwierige, leistungsschwache Schüler können in einer intakten Klasse wahrscheinlich von der „Sogwirkung“ profitieren, die Renate Valtin beschreibt. Drei bilden schon eine Clique, die stark und deshalb attraktiv wirkt und recht schnell die Klasse dominiert.

Denn der Sog nach unten ist meistens stärker als der Sog nach oben.

Im Gymnasium sind die Mehrheitsverhältnisse anders als in der Grund- oder der Gesamtschule. Unter anderem deshalb ist das Gymnasium attraktiv. Um gemeinsam in einer Klasse zu lernen, ist ein gewisses Maß an Homogenität erforderlich - eine gemeinsame Sprache, soziale Regeln, die alle akzeptieren. Weil die Grundschule in vielen Fällen nicht die Mittel hat, diese Basis herzustellen, flüchten die Eltern an andere Schulen. Wer die Grundschule fördern will, soll deshalb keine Sprüche klopfen, sondern Schulstationen und Sozialpädagogen herschaffen.

Man sollte in Berlin einfach einmal den Leistungsstand und die Persönlichkeitsentwicklung am Ende der sechsten Klasse vergleichen. Kinder, die sechs Jahre Grundschule hinter sich haben, und Kinder, die das Gymnasium besuchen. Dann wüsste man, was besser ist. Aber einen solchen Vergleich würde die GEW niemals zulassen.

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