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Gesundheit: Woodstock in der Steinzeit

Eine Berliner Archäologin hat das erste Hochzeitsbild der Menschheit gefunden

Die Archäologin kam uneingeladen zu der Hochzeit. Aber diese einmalige Feier wollte sie sich nicht entgehen lassen. Denn das Paar und die Festgesellschaft sind rund 8000 Jahre alt. Das Hochzeitsbild wurde mit roter Farbe auf dem zerklüfteten Untergrund einer Felswand an der westtürkischen Ägäisküste fixiert und ist ein Unikat in der prähistorischen Forschung Westanatoliens. Anneliese Peschlow-Bindokat vom Deutschen Archäologischen Institut in Berlin hat mit ihrem neuen Fund die einmalige Galerie ihrer steinzeitlichen Felsmalereien um ein anrührendes wie wichtiges Stück erweitert.

Seit 1994 durchstreift die Prähistorikerin die schroffe Felswelt des Latmosgebirges im Hinterland von Milet und hat eine bislang unbekannte und unvergleichbare Kultur gefunden. „Es war kein Zufall“, erinnert sich die Archäologin. „Ich suchte gezielt nach neolithischen Spuren wie Feuersteinklingen oder Obsidianstücken. Die habe ich nicht gefunden. Dafür aber mein erstes Felsbild, damit hatte ich nicht gerechnet.“

Vermutlich mit den Fingern haben die steinzeitlichen Künstler am Göktepe eine Reihe roter und naturalistisch runder Menschenfiguren geschaffen, die auch heute noch gut zu erkennen sind: Ein Pärchen steht sich gegenüber, eine Gruppe von acht bewegten Figuren tanzt über den verwitterten Fels, gemalte rechte Hände und andere Figuren runden das Bild ab. Inzwischen hat Anneliese Peschlow-Bindokat 179 weitere Felsmalereien gefunden. Ihr erstes Bild fällt mit seiner naturalistischen Darstellung aus dem Rahmen, denn meist sind die steinzeitlichen Latmosbewohner als „Strichmännchen“ wiedergegeben.

Die sind typisiert wie in einem modernen Comic: Die Männer sind immer frontal und ohne Geschlecht, die Frauen stets in Seitenansicht dargestellt. Beide haben T-förmige Köpfe oder Kopfbekleidungen mit hornartigen Auswüchsen oder Zickzacklinien. Und: Die Frauen haben alle ein explizit ausladendes Hinterteil – mal rund, mal drei- oder viereckig und immer aufwendig dekoriert. Die Deutung, das reale Körperteil sei tätowiert gewesen, hat Peschlow verworfen. In der Tat erinnern die Steinzeit-Zeichnungen an die Halbreifenkonstruktion des „Cul de Paris“, mit dem in den 1880er Jahren die modische Damenwelt Europas ihre Kehrseite betonte.

Bei der Katalogisierung ihrer Kunststücke fiel der Archäologin schnell ins Auge, dass in den Bildern nie Kampf, Krieg oder Waffen dargestellt sind und auch Tiere kaum vorkommen, wilde Bestien oder Jagdbeute schon gar nicht. Das Thema der steinzeitlichen Latmos-Künstler ist der Mensch. Peschlow filtert aus ihren steinernen Vorlagen Mutterund-Tochter-Paare, Frauengruppen in tanzenden Bewegungen, Mann-undFrau-Zweisamkeiten, wobei der Mann oft seinen Arm um die Frau legt.

Und nun das Hochzeitsbild, das sie an der Unterseite eines abgerutschten Felsbrockens entdeckte: Im Mittelpunkt umarmt sich ein durch seine Größe hervorgehobenes Paar. Rechts schließen sich zwei Dreiergruppen von Frauen an, deren nach hinten abgewinkelte Beine wohl Tanz symbolisieren. Zwei männliche Wesen spielen eine absolut untergeordnete Rolle, eines scheint gar auf dem Boden zu liegen. Links wird das Bild abgeschlossen durch eine weitere weibliche Dreiergruppe.

Bei aller Schematisierung ein „bewegtes“ Bild – man könnte eine Geschichte dazu schreiben. „Ein kleines Meisterwerk“, befindet Anneliese Peschlow-Bindokat und drückt ihre Überzeugung wissenschaftlich zurückhaltend so aus: „Wenn man nicht darauf verzichten will, Malereien einer so weit zurückliegenden schriftlosen Zeit zu deuten, dazu solche, zu denen es in der übrigen Felskunst keine Vergleichsbeispiele gibt, bietet sich hier die Deutung als Hochzeit geradezu an.“ Wenn dem so ist, wäre Peschlows Petroglyphe das erste Hochzeitsbild der Menschheitsgeschichte – auf Gneis fixiert vor 7000 oder 8000 Jahren.

Die Datierung ihrer Bildfunde bereitete der Archäologin zu Beginn Probleme. Im Lauf der Jahre hat sie jedoch auch die Siedlungsspuren der Latmos-Bewohner gefunden: Hausreste, Steingeräte und Keramik. Peschlow ist sich sicher: „An der Datierung ins 5. oder gar 6. Jahrtausend vor Christus kann niemand mehr zweifeln.“

Die Einmaligkeit der Felsmalereien erklärt sich die Archäologin aus dem natürlichen Umfeld. Der höchste Gipfel des schroffen, fünfzackigen Latmosgebirges war, so kann sie nachweisen, bis in die Klassische Antike ein Heiligtum des Wettergottes. Der war nicht zufällig der Größte im altanatolischen Pantheon. Denn die Zeit der Jäger und Sammler war vorüber, die Bauern benötigten gutes Wetter und Fruchtbarkeit bei Land, Mensch und Tier. Die Malereien finden sich nur rund um den Wettergott-Gipfel. Ihr einzigartiges Bildrepertoire – Mann und Frau, Mutter und Kind, friedliche und feiernde menschliche Gruppen – hat überwiegend ein Thema: die Familie und ihren Fortbestand. „Die Fundstellen der Bilder“, interpretiert Peschlow, „sind kleine Naturheiligtümer, an denen zu Ehren oder unter dem Schutz des Wettergottes vermutlich Hochzeiten zelebriert wurden.“

Gefeiert wurde nicht nur auf dem Hochzeitsbild, fröhlich und bewegt geht es auch auf den meisten anderen Darstellungen zu. Oft drängt sich der Eindruck von Ausgelassenheit und Tanz auf. „Woodstock in der Steinzeit“, witzelt Peschlow und hofft – mit Unterstützung der Gerda-Henkel-Stiftung –, die Exponate ihrer prähistorischen Galerie in den nächsten zwei Jahren noch auf 200 erhöhen zu können.

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