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Gesundheit: Zarte Kritik

Alles, was man wissen müsste – eine Rezension des ersten nationalen Bildungsberichts

Der Dietrich Schwanitz der Kultusminister liegt auf dem Tisch: Bildung. Alles, was man wissen muss – oder besser: Alles, was man wissen müsste. Denn die neun Wissenschaftler, die den ersten nationalen Bildungsbericht im Auftrag der Kultusminister der Bundesländer geschrieben haben, hatten nur ein halbes Jahr Zeit, um sich durch den föderalen Bildungsdschungel zu kämpfen. „Erste Befunde“ lautet deshalb die Unterzeile des Buches, das unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) mit Sitz in Frankfurt am Main entstanden ist.

Bewegt sich nun etwas an deutschen Schulen oder nicht? Welches Bundesland macht mehr als ein anderes? Die Forscher halten sich mit deutlichen Worten zurück. Offenkundig gebe es zwar eine „Vielzahl bildungspolitischer Initiativen“ in der gesamten Republik, schreiben sie. Doch die Zeit sei zu knapp gewesen, um diese kritisch zu hinterfragen. Das ist schade für die Öffentlichkeit, die es gerne genauer wissen würde. Den Forschern ist das nicht vorzuwerfen. Es war der Auftraggeber, die Kultusministerkonferenz, der auf Tempo gedrängt hat – und damit eine kritischere Betrachtung verhindert hat.

Ein sehr unscharfes Bild der Schulreformen entsteht auch deshalb, weil die Wissenschaftler sich ausschließlich auf Selbstaussagen der Länder stützen mussten. Auf Fragebögen konnten die Bildungsministerien eintragen, ob sie etwas für die sprachliche Förderung von Migrantenkindern und deren Eltern tun – oder tun wollen, ob sie die Ganztagsschule ausbauen oder ob sie die Ausbildung der Lehrer verändern wollen.

In den Überblickstabellen steht dabei jedes Bundesland ganz gut da. Fast jedes kann sich in allen abgefragten Punkten mit einem „E“ für „eingeführt“ oder zumindest mit einem „P“ für „in Planung“ schmücken. Das ist erfreulich. Allerdings erfährt die Öffentlichkeit nichts über den Umfang der Aktivitäten. Was sagt es schon aus, wenn Länder „verstärkte Angebote zur Sprachförderung“ für Kleinkinder machen. Das kann schon von sich behaupten, wer nur einen einzigen zusätzlichen Kurs auf die Beine stellt. Genauso, wenn die Länder von sich sagen, sie seien dabei, die hohe Zahl der Sitzenbleiber abzubauen. Einer weniger ist keine große pädagogische Erfolgsmeldung.

Alle 16 Länder sagen von sich, dass sie mit „Qualifizierungsangeboten“ die „methodische Kompetenz“ der Lehrer verbessern wollen. So weit so gut – aber hat man nicht auch gehört, dass in Hessen und Berlin laufend Weiterbildungsangebote für Lehrer weggespart werden? Dass der demografische Knick in Ostdeutschland zum Lehrer-Kahlschlag genutzt wurde? Dass in Hessen 1400 freie Lehrerstellen nur zu einem Drittel neu besetzt werden, was vielen Referendaren die Chance nimmt, in den Schuldienst zu kommen? Denn es ist billiger, älteren Pädagogen ein höheres Pflichtstundenpensum aufzubürden. So macht es auch Hamburg. Von alledem ist im Bildungsbericht nicht die Rede.

Da, wo die Forscher doch Kritik üben, nennen sie Ross und Reiter nicht – vielleicht in Abstimmung mit dem Auftraggeber? Alle Länder hätten sich offenbar „darauf eingestellt“, Maßnahmen zur Verbesserung des Schulwesens „möglichst in der ganzen Breite umzusetzen“, schreiben die Forscher. Und dezent in Gedankenstrichen: „bei aller Unterschiedlichkeit in der Dimensionierung und Reichweite der Maßnahmen“.

Die Studie tut niemandem weh, keinem Land wird geraten, vom Nachbarn zu lernen. Die persönlichen Meinungen der politisch unterschiedlich orientierten Wissenschaftler neutralisieren einander. Die Experten treten hinter das Gesamtwerk zurück.

Der erste nationale Bildungsbericht ist ein Einstieg in die Evaluation des deutschen Bildungssystems. Es ist gut, dass es ihn gibt, auch wenn noch manche Fragen offen bleiben müssen. Geht es nun voran im deutschen Schulwesen? Vielleicht. Genauer wissen wir es hoffentlich beim nächsten Mal.

Herrmann Avenarius u. a.: Bildungsbericht für Deutschland. Erste Befunde. Leske und Budrich, Opladen 2003. 366 Seiten. 29,90 Euro.

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