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Gesundheit: Zeit und Geduld sind ihr Kapital

Menschen mit Behinderung sind mehr als bloße Empfänger von Hilfe. Sie können auch selbst Unterstützung bieten, zum Beispiel als Alltagsbegleiter Das hat jetzt ein bundesweites Projekt erforscht. Auch eine Altenpflege-Einrichtung in Treptow hat daran teilgenommen – unsere Autorin hat sie besucht.

Cappuccino? Oder Latte Macchiato? Freundlich bietet die junge Frau an der Rezeption Kaffee und eine Sitzgelegenheit an. Man sieht ihr nicht gleich an, dass sie wegen einer spastischen Lähmung und einiger leicht kognitiver Einschränkungen von Anfang an etwas mehr Hilfe gebraucht hat als andere Menschen.

Seit fast drei Monaten ist Belinda Kaping, 24, nun selbst beruflich eine Helferin: Sie macht ein Praktikum in der Pflegeeinrichtung der FSE gGmbH in Treptow. Schon bald kann daraus eine bezahlte Arbeitsstelle werden – keine reguläre auf dem ersten Arbeitsmarkt, aber ein sogenannter ausgelagerter Arbeitsplatz der Berliner Werkstätten für Menschen mit Behinderung (BWB). Dort hat Belinda Kaping einen Jobcoach, der sie regelmäßig in der Pflegeeinrichtung besuchen kommt und den sie oder die Einrichtung jederzeit rufen können, wenn etwas nicht rund läuft. Bisher war das kaum nötig. „Die Arbeit an der Rezeption gefällt mir, ich bin ein sehr kontaktfreudiger Mensch“, sagt sie. Bei ihrem früheren Job – sie musste Papiere zusammenfalten – kam dieser Teil ihrer Persönlichkeit für ihren Geschmack zu kurz.

Belinda Kapings Kollege Thomas Lamprecht, 23, arbeitet schon ein ganzes Jahr hier. Er hilft auf Etage 4 beim Service, nimmt die Essensbestellungen auf, macht die Runde mit den Getränken, fragt nach besonderen Wünschen für Geburtstagsfeiern, bringt die Wäsche in die Zimmer, bezieht Betten, erledigt für die Bewohner manchmal kleinere Einkäufe oder begleitet sie zum Arzt. Ganz nebenbei hört er viele Lebensgeschichten. Das alles zusammen ist oft ziemlich anstrengend – nicht nur für einen jungen Mann wie Thomas Lamprecht, der mit seiner leichten geistigen Behinderung selbst in anderer Weise hilfsbedürftig ist. Er hatte verschiedene Jobs in der Gastronomie, aber nichts wollte richtig klappen. Jetzt fühlt er sich am richtigen Platz. „Ich mag es, mit alten Menschen zu reden, sie haben so viel erlebt.“

Menschen mit einer Behinderung würden heute viel zu oft einseitig als bloße Empfänger von Hilfe wahrgenommen, meint Ulla Schmidt, Vorsitzende von Lebenshilfe e.V. und ehemalige Bundesgesundheitsministerin. „Wir sollten eine einfache Tatsache anerkennen und respektieren: Bei aller Unterstützung, die behinderte Menschen benötigen, können und wollen viele von ihnen auch selbst Hilfe geben.“ Ob und wie das in der Praxis in der Altenhilfe gelingt, wollten die Bundesvereinigung Lebenshilfe und das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) herausfinden. Das Projekt trägt den programmatischen Titel „Perspektivenwechsel“. 17 ausbildende Werkstätten für behinderte Menschen und 29 mit ihnen kooperierende Altenhilfeeinrichtungen haben bei der Erhebung mitgemacht, seit wenigen Wochen liegt das Ergebnis vor.

Zunächst zeigt sich: Bewohner von Altenheimen und Angehörige haben keine Vorbehalte gegenüber Helfern mit Behinderung. Die Alltagsbegleiter selbst sind mehrheitlich mit ihrer Tätigkeit sehr zufrieden, vor allem äußern sie immer wieder, dass sie froh sind, „etwas mit Menschen“ machen zu können. Sie gut auf die Tätigkeit vorzubereiten, ist aber schon deshalb keine leichte Aufgabe, weil das Ausgangsniveau sehr unterschiedlich ist. Es geht nicht nur um Menschen mit einer von klein auf vorhandenen geistigen Behinderung, sondern auch um solche, die sich nicht vollständig von einem Schlaganfall oder einem Unfall erholt haben, und um Menschen, die wegen einer psychischen oder neurologischen Störung, die nicht vollständig heilbar ist, im Alltag eingeschränkt sind. Die Untersuchung kommt deshalb zu dem Ergebnis, dass ein „Qualifizierungsmix“ aus Schulung und „Learning by doing“ in der Einrichtung selbst am günstigsten ist.

Astrid Schöpke leitet die Treptower Pflegeeinrichtung, wo neben Belinda Kaping und Thomas Lamprecht weitere vier Mitarbeiter mit geistiger Behinderung in der Werkstatt oder als Praktikanten arbeiten. Sie ist eine nüchterne Frau, die klare Grenzen zieht und zunächst feststellt , dass viele Behinderte für eine solche Arbeit nicht infrage kommen. „Man muss ehrlich sagen, dass es hier viele vergebliche Versuche, viele falsche Erwartungen und viele Rückschläge gibt.“ Bevor ein Praktikant in ihre Einrichtung kommt, klärt sie deshalb mit BWB- Mitarbeitern genau ab, welche Fähigkeiten er oder sie mitbringt.

Fest steht, dass Mitarbeiter mit Behinderung nicht die qualifizierte Arbeit von ausgebildeten Altenpflegern übernehmen können. Fest steht aber auch, dass sie über einige Grundfertigkeiten verfügen müssen. „Wer bei uns an der Rezeption oder in den Wohnbereichen arbeiten will, muss auf jeden Fall lesen, schreiben, verstehen und sich ausdrücken können“, sagt Astrid Schöpke. Alle Mitarbeiter brauchen zudem ein Grundverständnis dafür, wie man mit dementen alten Menschen umgeht. Schließlich leben in einer Einrichtung wie der in Treptow über die Hälfte der Bewohner mit einer diagnostizierten Demenz. Die Mitarbeiter müssen zudem körperlich stabil sein und auch mal einen Wasserkasten tragen können. Belinda ist deshalb nur an der Rezeption gut aufgehoben. Ab und zu bringt sie eine Zeitung nach oben, holt Bewohner zum Mittagessen ab, nutzt die Gelegenheit für ein kleines Schwätzchen.

„Das unschätzbare Kapital, das Mitarbeiter wie Belinda und Thomas mitbringen und das uns im Alltag leider oft fehlt, sind Zeit und Geduld", sagt Astrid Schöpke. Sie ist fest davon überzeugt, dass die alten Menschen das spüren, sich bei den Mitarbeitern mit einer Behinderung gut aufgehoben fühlen. „Sie kümmern sich um die kleinen, persönlichen Dinge, die oft für die Bewohner so wichtig sind.“ Und sei es nur, dass der Lieblingspullover einer alten Dame möglichst schnell zurückkommt, der gerade in der Wäsche war und schon vermisst wurde.

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