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Gesundheit: Zorn

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

„Sie werden seine Leiche noch vor meinem Zelt vorübertragen“ – dieses nicht gerade liebenswürdige Sprichwort, das erkennbar aus beduinischem Milieu stammt, habe ich das erste Mal nicht auf einer meiner zahlreichen Orientreisen gehört, sondern von einem hoch geschätzten mitteleuropäischen Zeitgenossen, dessen Identität hier taktvoll verschwiegen sei. Dabei glaube ich nicht, dass dieser Spruch ein Zeichen besonders perfider Mordphantasien von Wüstenbewohnern gegenüber unfreundlichen Zeitgenossen ist; ich habe Beduinen immer überaus gastfreundlich erlebt und bekam vor Jahren einmal nach einem schlimmen Sonnenstich im Zelt so lange Tee eingeflößt, bis die Lebensgeister zurückkehrten.

Mir scheint vielmehr, dass der Spruch über die Leiche, die am Zelt vorübergetragen wird, eine leicht übersteigerte Äußerung unbändigen Zornes ist, den man dann und wann über bestimmte Zeitgenossen empfinden kann. Zorn ist eine Emotion, sie steigt in uns auf, ob wir das nun wollen oder nicht, und verfärbt uns gelegentlich sogar das Antlitz. Dem freien Willen unterliegt Zorn wie alle Emotionen, wie beispielsweise Zuneigung und Abneigung, zunächst einmal nicht. An uns aber liegt es, ob wir einen solchen Satz wie das arabische Sprichwort zur Beruhigung unseres Zorns vor uns hinmurmeln, während des Murmelns schon ein wenig über uns lachen und es gut sein lassen, oder aber ihn laut einem Menschen ins Gesicht sagen und weiter zornmütig durch die Gegend toben. Manchmal brauchen wir eine Weile, ehe der unkontrolliert in uns aufgestiegene Zorn wieder verraucht ist; das Neue Testament gibt den klugen Ratschlag, die Sonne nicht über dem Zorn untergehen zu lassen. Das klingt übrigens auch deutlich besser als die Empfehlung einer „dialogischen Begradigung von Emotionen“, die ein prominenter Ethiker im Zusammenhang mit dem Zorn formuliert hat.

Noch ärgerlicher als solche rhetorischen Entgleisungen, die einen ganz zornig machen können, sind allerdings Menschen, die Zorn als taktische Waffe im Alltag einsetzen – so kritisiert ein altes Sprichwort schlechte Rechtsanwälte, weil sie „Wort und Zorn für Geld verleihn“. Abschließend gefragt: Darf man wirklich zornig sein? Ja, man darf und sollte manchmal sogar, jedenfalls dann, wenn man nicht so lange wartet, bis tatsächlich Leichen im übertragenen oder wörtlichen Sinne vorübergetragen werden.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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