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Gesundheit: Zwischen Magersucht und Fettleibigkeit

Studie beweist: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind von Essstörungen bedroht

Mehr als jeder fünfte Heranwachsende in Deutschland ist gefährdet, eine Essstörung zu entwickeln. Das ist eines der besorgniserregenden Ergebnisse, die die vorläufige Auswertung des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (Kiggs) jetzt erbrachte.

Für die Untersuchung, die das Bundesgesundheitsministerium beim Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) in Auftrag gegeben hatte, wurden 18 000 zufällig ausgewählte Kinder und Jugendliche medizinisch untersucht und zu unterschiedlichen Aspekten von Gesundheit und Wohlbefinden befragt. Unter anderem interessierten sich die Mediziner und Psychologen dabei für Anzeichen von Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie.

Insgesamt 7498 Elf- bis 17-Jährige füllten einen Fragebogen aus, mit dem Auffälligkeiten in diesem sensiblen und lebenswichtigen Bereich besonders gut aufgespürt werden können. Außerdem bestimmten die Wissenschaftler den Body-Mass-Index der Heranwachsenden (Gewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern im Quadrat). Nicht zuletzt interessierten sie sich aber auch dafür, wie zufrieden die Studienteilnehmer mit ihrer Figur sind.

Insgesamt fanden sie auf diese Weise bei 21,9 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen Auffälligkeiten. Dabei bestätigte sich, dass es mit zunehmendem Alter besonders die Mädchen sind, die von Magersucht, Brech-Esssucht (Bulimie) oder Anfällen von Heißhunger, dem „Binge-Eating“, gefährdet sind. Bei den Elfjährigen war der Unterschied zwischen den Geschlechtern noch nicht zu erkennen, mit 17 Jahren fiel jedoch bei 30 Prozent der Mädchen, aber „nur“ bei 12,8 Prozent der jungen Männer eine Fixierung auf das Thema auf.

In der Öffentlichkeit wird wegen der sichtbaren körperlichen Veränderungen und der lebensbedrohlichen Folgen vor allem die Magersucht als Problem wahrgenommen. Tatsächlich sind aber noch mehr Heranwachsende von Bulimie bedroht, und auch das Binge-Eating – von den Fachleuten als „Episoden von Fressanfällen ohne gewichtsregulierende Gegensteuerung“ definiert – kommt weit häufiger vor.

Beim Binge-Eating drängt sich ein Zusammenhang mit einem anderen Teilaspekt der Kiggs-Studie auf: Dank der Untersuchung liegen nämlich erstmals Daten zu Übergewicht und Fettsucht bei Heranwachsenden vor. Bisher war man dafür auf Schätzungen und Hochrechnungen aus den Schuleingangsuntersuchungen angewiesen. Nun haben die RKI-Wissenschaftler um Studienleiterin Bärbel-Maria Kurth alle Beteiligten gemessen und gewogen. 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben demnach Übergewicht, für 6,3 Prozent trifft die Diagnose Fettsucht (Adipositas) zu.

Anhand der Untersuchungen zeigte sich, dass deutlich mehr Kinder aus sozial benachteiligten Schichten und mit Migrationshintergrund übergewichtig sind. Die Kiggs-Forscher heben aber hervor, dass 85 Prozent der Kinder hierzulande Normalgewicht haben.

Das Bild des typischen magersüchtigen Mittelschicht-Mädchens mit großem schulischem Ehrgeiz verleite dazu, sich ein falsches Bild über die soziale Verteilung von Essstörungen zu machen. Tatsächlich kämen diese psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem sozialem Status fast doppelt so häufig vor wie bei ihren Altersgenossen aus besser gestellten Elternhäusern. Die Kiggs-Tests erlauben es allerdings nicht, zwischen den einzelnen Krankheitsformen zu unterscheiden. Möglicherweise sind Hauptschülerinnen stärker vom Binge-Eating, Gymnasiastinnen stärker von Magersucht gefährdet.

„Essstörungen fangen aber nie mit einem geringen Körpergewicht an“, sagte die Gesundheitswissenschaftlerin Heike Hölling, die zusammen mit ihrem Kollegen Robert Schlack den Teilbereich der Studie auswertet. Viele Jugendliche geraten von einer anfänglichen Diät-Phase, mit der sie ihr Gewicht regulieren wollen, übergangslos in eine Magersucht oder Bulimie. Sie nehmen ihren Körper verzerrt wahr, empfinden sich als dicker als sie sind. Das falsche Körperbild gilt als eines der Hauptmerkmale von Essstörungen: „76,7 Prozent der Normalgewichtigen, die im Test Merkmale einer Essstörung zeigen, aber nur 25,6 Prozent der übrigen Jugendlichen mit Normalgewicht schätzen sich als zu dick ein“, erläuterte Hölling dem Tagesspiegel.

Zwischen Körper und Seele zu trennen, fällt in diesem Bereich der Gesundheit besonders schwer, Essstörungen gehören aus gutem Grund zu den psychischen Erkrankungen: Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist, dass die von Essstörungen gefährdeten Heranwachsenden häufiger unglücklich sind. Die Studienteilnehmer, die bei den Tests auffielen, neigen zugleich stärker zu Depressionen und rauchen häufiger. Und sie berichteten weitaus häufiger darüber, dass sie in der Vergangenheit sexuell belästigt worden seien. „Um rechtzeitig handeln zu können und den Heranwachsenden eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, müssen Risikogruppen früh identifiziert werden“, sagte Hölling.

In der detaillierten Auswertung, die jetzt noch ansteht, wollen die RKI-Wissenschaftler sich genauer ansehen, was die Eltern der betroffenen Kinder in der Befragung sagten, welchen Zusammenhang es zwischen Merkmalen einer Essstörung und Hyperaktivität oder Arzneimittelgebrauch gibt, aber auch, welche Faktoren vor einer Erkrankung schützen.

Adelheid Müller-Lissner

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