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Mit scharfen Worten zur Geschlechterdebatte erobert die junge Inderin Aranya Johar zurzeit auch in Deutschland die sozialen Medien.

© Tanay Kadel/dpa

Gewalt gegen Frauen in Indien: Sprechen über das Unaussprechliche

„Vagina, Hure, Blow Job“ - die 18-jährige Inderin Aranya Johar bricht gesellschaftliche Tabus und sagt in ihren Gedichten dem Sexismus den Kampf an.

Sie nimmt Worte in den Mund, die den meisten indischen Frauen nicht über die Lippen kommen: „Vagina, Hymen, Hure, Jungfräulichkeit, Blow Job“. Die 18-jährige Aranya Johar schreckt nicht vor Tabus zurück, wenn sie in ihren Gedicht- Aufführungen die Doppelmoral der indischen Gesellschaft geißelt und offen Frauenfeindlichkeit, Vergewaltigung in der Ehe und Menstruationsekel anspricht. Ihr Stück, „A Brown Girl’s Guide to Gender“ (deutsch: Leitfaden für farbige Mädchen zum Geschlecht“), das am Internationalen Frauentag im März veröffentlicht wurde, hat sich zu einer Internetsensation entwickelt. Eine halbe Million Mal wurde der Zwei-Minuten Clip bereits angeschaut.

In ihrem Heimatland trifft die junge Inderin damit einen Nerv. Denn Gewalt gegen Frauen ist in Indien weit verbreitet. Die bestialische Vergewaltigung und der Mord an einer Studentin in einem Stadtbus in Neu-Delhi machte 2012 auch international Schlagzeilen. Ihr Tod hatte in Indien für wochenlange Straßenproteste gesorgt. Die Regierung verschärfte als Reaktion darauf das Strafmaß bei Vergewaltigung. Dennoch reißt die Kette der schockierenden Fälle nicht ab. Anfang der Woche sorgte die Vergewaltigung einer deutschen Touristin in Süd-Indien für internationales Aufsehen. Das Entsetzen über zahlreiche brutale Gruppen-Vergewaltigungen und Morde an Frauen in Indien haben die versteckte, alltägliche Gewalt innerhalb der Familie, die viele Frauen in Indien erfahren müssen, in den Hintergrund treten lassen. Dabei sind es nicht immer Männer, die hier die Täter sind. Es sind gerade auch die Frauen, die Strukturen der streng patriarchalischen Gesellschaft verteidigen, die den Frauen kaum Macht über ihr eigenes Leben gibt.

Der Bruder brachte Johar zum Dichten

Johar, die noch die 12. Klasse in Mumbai besucht, kam über ihren Bruder zur Dichtung. Dieser nahm sie vor fünf Jahren auf eine „Poesie Nacht“ in eine Bar im trendigen Bandra-Viertel mit. Beim Poetry Slam, zu deutsch Gedichtwettstreit, werden selbst verfasste Gedichte vor einem Publikum vorgetragen, das dann den Sieger kürt. Im Gegensatz zu traditionellen Dichterlesungen, wo die Autoren mit einem Glas Wasser in einer Buchhandlung sitzen, dominiert hier Spontanität, Darstellungskunst und die Interaktion mit den Zuhörern.

Obwohl Johar in Begleitung ihrer Eltern zu ihrem ersten Poetry Slam kam, musste die damals 13-Jährige den Organisatoren versichern, dass sie nicht gekommen sei, um Alkohol zu trinken. Der Abend hinterließ einen tiefen Eindruck bei ihr. Sie fühlte, dass Poesie das Medium sei, mit dem sie andere Menschen erreichen könne. „Dichtung ist mein Weg, einen Dialog zu beginnen“, sagte Johar jüngst der „Hindustan Times“. Inzwischen ist sie eine routinierte Künstlerin, die nicht nur regelmäßig bei Veranstaltungen in ihrer Heimatstadt auftritt, sondern auch selbst Gedicht-Abende und Dichterwettbewerbe organisiert – darunter auch die „Blinde Poesie- Nacht“. Die Veranstaltung findet in einem dunklen Raum statt, die Dichter bleiben anonym. „Das ist eine Herausforderung, weil die Künstler nicht aus ihren Heften vorlesen können“, erklärt Johar. „Und niemand kann ihre Poesie auf der Grundlage ihres Aussehens und Alters beurteilen, weil niemand ihre Gesichter sehen kann“, fügt sie hinzu. Die Zuschauer bekommen fluoreszierende Leuchtstäbe, die im Dunkeln zu sehen sind, und die sie schwenken können, wenn ihnen ein Vortrag gefällt.

Johar spricht in ihrem Gedicht auch davon, wie Männer die Denkweise der Frauen bestimmen, wonach knappe Kleidung und ein tieferer Ausschnitt der Grund für Vergewaltigungen sind. Sie spricht davon, wie Frauen bereits als kleine Mädchen sexualisiert werden und dass sie nur ganz wenigen Männer vertrauen kann, sie nachts bis vor ihre Haustür zu begleiten. Zuspruch erhält Johar dabei auch von ihrem Dichterkollegen Sudeep Pagedar, der auf ihr Stück mit einem eigenen Gedicht reagierte, wo er die Rolle der Männer in der Aufrechterhaltung des alltäglichen Sexismus reflektiert: „Das Privileg des Penis“ thematisiert die Einteilung von Frauen in Heilige und Huren, männliche Aggression und die Verharmlosung von sexueller Gewalt mit der achselzuckenden „Männer sind eben Männer“-Attitüde.

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