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Panorama: Gluck und Traetta: Frauen müssen kämpfen

Es klingt zu schön, als dass man es heute noch glauben möchte: Kaum hat sich das lebendig eingemauerte Liebespaar Antigone und Haimon entschlossen, gemeinsam in den Tod zu gehen, hat der Thebanerkönig Kreon ein Einsehen und ebnet den Weg zu einem glücklichen Opernfinale. Kaum hat der junge Pylades die Opferung seines Freundes Orest und den Tod von dessen Schwester Iphigenie verhindert, steigt die Göttin Diana selbst vom Himmel herab und gebietet der barbarischen Menschenopferung für immer Einhalt.

Es klingt zu schön, als dass man es heute noch glauben möchte: Kaum hat sich das lebendig eingemauerte Liebespaar Antigone und Haimon entschlossen, gemeinsam in den Tod zu gehen, hat der Thebanerkönig Kreon ein Einsehen und ebnet den Weg zu einem glücklichen Opernfinale. Kaum hat der junge Pylades die Opferung seines Freundes Orest und den Tod von dessen Schwester Iphigenie verhindert, steigt die Göttin Diana selbst vom Himmel herab und gebietet der barbarischen Menschenopferung für immer Einhalt.

Es ist die gleiche Vision vom weisen, durch die Sonne der Vernunft geläuterten Herrscher, die sowohl Tommaso Traettas "Antigona" und Glucks "Iphigénie en Tauride" krönt und an deren Realisierbarkeit die Gebildeten des Rokoko noch so bereitwillig glauben wollten. Inklusive der Herrscher selbst: Die "Antigona" wurde 1771 im Hoftheater von St-Petersburg uraufgeführt und von Zarin Katharina der Großen persönlich abgesegnet, die "Iphigénie" markierte acht Jahre später nicht nur den endgültigen Triumph Glucks in Paris, sondern zugleich auch den bedeutendsten Sieg seiner Protektorin Marie Antoinette. Freilich, das ist nur noch Geschichte: Während die Opern Traettas schon bald nach Anbruch der französischen Revolution in Vergessenheit gerieten, verschwanden die klassischen Reformopern Glucks mit den beiden Weltkriegen von den Spielplänen.

Die Anzeichen mehren sich jedoch, dass heute der Abstand wieder groß genug ist, diese Opern als Kunstwerke wiederzuentdecken - auch weil die Alte-Musik-bewegung der letzten Jahrzehnte wieder das Bewusstsein für die stilistische Eigenart der Vor-Revolutions-Musik geschärft hat.

Nur wenige Werke hatten so unter Bearbeitungen und Entstellungen zu leiden wie die Opern Glucks - noch Ende der sechziger Jahre war es für eine deutsche Schallplattenfirma selbstverständlich, die "Iphigenie in Aulis" auf deutsch statt im originalen Französisch, in einer Bearbeitung Richard Wagners zu spielen - erst mit den Aufnahmen John Eliot Gardiners in den achtziger Jahren begann die Rehabilitierung der Gluckschen Instrumentation und Klangfarbenkunst. Die Rolle des wichtigsten Gluck-Anwalts hat nunmehr der französische Alte-Musik-Superstar Marc Minkowski übernommen: Als Mitschnitte von konzertanten Live-Aufführungen hat die Archiv-Produktion der Deutschen Grammophon vor einem Jahr bereits die "Armide" herausgebracht und legt nun mit der "Iphigénie en Tauride" nach. Was Minkowski gelingt, ist freilich nicht eine bloße klanglich-editorische Auffrischung und Wiederherstellung des engen Bezugs von gesungenem Wort und orchestral kommentierender Begleitung, sondern eine Rückgewinnung der ursprünglichen geistigen wie dramatischen Werkdimension: Hatten die Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts vor allem darauf abgezielt, Glucks mythische Protagonisten auf Götter-Niveau zu hieven, sind Iphigenie, Orest und Pylades hier vielleicht zum ersten Mal wieder einfache Menschen, die sich im orchestralen Schicksals-Strom zu behaupten lernen. Ganz ohne heroisches Priesterinnen-Pathos kommt Minkowskis Iphigenie Mireille Delunsch aus, wenn sie in jener berühmten Eröffnungsszene der Oper den unversehens aus der bukolischen Stimmung losgebrochenen Ouvertüren-Sturm zum Schweigen bringt - stattdessen hört man eine zornige junge Menschenrechtlerin, die mit den ungerechten Göttern hadert und deren von Strophe zu Strophe nachlassende Kräfte schon die Erschöpfung durch jahrelange vergebliche Kämpfe verraten.

Schiffbrüchiger am Ufer

Auch Simon Keenlyside, Minkowskis Orest ist kein baritonaler Opernmacho, sondern eher ein Softie, der unter seinem Schuldkomplex beinahe zusammenbricht und als gewissermaßen im doppelten Sinn Schiffbrüchiger ans taurische Ufer gespült wird. Tauchten Glucks Reformopern in den letzten Jahrzehnten wenigstens noch sporadisch auf den Spielplänen der Opernbühnen auf, erwischte es seinen Zeitgenossen Tommaso Traetta schlimmer: Zu Lebzeiten zusammen mit Komponisten wie Niccolo Jommelli und Antonio Sacchini zur Avantgarde der Opernkomponisten des "neuen Stils" zählend, gerieten seine Opern schon bald nach seinem Tod 1779 in Vergessenheit - auch weil Gluck und seine Nachfolger inzwischen schon die letzten Relikte der alten Opera seria niedergerissen hatte, die in Traettas Werk immer noch hörbar sind. Dass jetzt eine hochkarätig besetzte Aufnahme von Traettas "Antigona" erscheint, beweist, dass sich auch hier das Blatt zu wenden beginnt und das Nebeneinander von unterschiedlichen Stilelementen nicht länger als Makel, sondern - später Segen der Postmoderne - als eigene Qualität begriffen wird. In Traettas Oper findet sich beides: die großen, prachtvoll verzierten da-Capo-Arien des auslaufenden Barocks ebenso wie die Auflösung des starren Ablaufschemas zugunsten einer freieren, durchaus experimentellen Behandlung der musikdramatischen Form. Auch wenn Traettas Orchesterbehandlung dabei noch ein Gutteil flächiger ist als die Glucks und die Möglichkeiten sinfonischer Affektmalerei eher gerade entdecktes als bereits erobertes Neuland sind, geht Traetta-Ausgräber Christophe Rousset mit seinen Talens Lyriques nicht viel anders zu Werk als Minkowski: Auch er setzt auf kammermusikalische Reduktion zugunsten von Detailklarheit und gleichberechtigter Klangbalance - Grazie und Anmut geben die Sänger selbst im Moment größter Todesgefahr nicht auf, der Zorn des Königs bleibt ebenso im empfindsam abgedämpften Rokoko-Rahmen wie das unerschütterliche Pflichtbewusstsein Antigones.

Zum Glück ist Rousset nicht der Versuchung erlegen, die Titelrolle mit einer ausgedienten Opernheroine zu besetzen und auf Callas-Format zu trimmen: Wie Mireille Delunsch in der "Iphigénie" ist auch Maria Bayo eine junge Frau, ein eher zierlicher koloraturgewandter Stimmcharakter, die immer in einem Spannungsfeld von Willensstärke und körperlicher Unterlegenheit zu stehen scheint, während Laura Polverellis Haimon mit ihrem körperreichen Mezzosopran dazu den Gegenpart einer weniger von Prinzipien als mehr Emotionen geleiteten Handlungsenergie abgibt. Ein Plädoyer, das offenbar schon die ersten Herzen bezwungen hat: René Jacobs, der nun doch der Berliner Lindenoper erhalten bleibt, denkt derzeit über die szenische Realisierung einer Traetta-Oper nach.

Jörg Königsdorf

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