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Panorama: Grober Unfug

Als Johann Wolfgang von Goethe 1797 in seiner Ballade "Der Schatzgräber" den wahren Reichtum erfüllter Lebensfreude in die mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene Formel "Saure Wochen! Frohe Feste!

Als Johann Wolfgang von Goethe 1797 in seiner Ballade "Der Schatzgräber" den wahren Reichtum erfüllter Lebensfreude in die mittlerweile zum geflügelten Wort gewordene Formel "Saure Wochen! Frohe Feste!" fasste, konnte er nicht ahnen, welches Ausmaß die Lust seiner Landsleute am Feiern froher Feste als Ausgleich zum sauren Arbeitsalltag einmal annehmen würde. Heute, zweihundert Jahre nach Goethes Gedicht, ist die Feierfreude der Deutschen größer denn je. Davon zeugen nicht nur Massenereignisse mit ständig höheren Besucherzahlen, sondern das spiegelt sich auch in der neuen Wertschätzung alter Überlieferungen und in der manchmal beinahe schon unheimlichen Konjunktur traditioneller Brauchanlässe. Als Spitzenreiter erweist sich durch besonders hohe Wachstumsraten die südwestdeutsche Variante der närrischen Tage, die schwäbisch-alemannische Fasnet, der weitaus mehr als dem rheinischen Karneval eine Aura des Traditionellen und Altertümlichen anhaftet.

Aber wenn es um Karneval und Fasnet geht, so kursieren nach wie vor zahlreiche irrige Vorstellungen. Was die Ursprünge betrifft, ist als erste und wichtigste Prämisse festzuhalten, dass Fastnacht nach übereinstimmender Ansicht der gesamten neueren Forschung - entgegen allen früheren Behauptungen und bis heute hartnäckig wiederholten Laienmeinungen - mit dem Austreiben des Winters und mit "uraltem" heidnischen Frühlingsbrauchtum nicht das Geringste zu tun hat. In ihr stecken weder Relikte kultischer Rituale der Germanen noch reichen ihre Wurzeln in "graue Vorzeit" zurück, sondern sie ist ein frühestens ab dem 12. Jahrhundert nachweisbares, in seiner Sinngebung ganz und gar dem christlichen Jahreslauf entsprungenes Fest. Als "Nacht vor dem Fasten" markierte sie den Schwellentermin vor dem Anbruch der vierzigtägigen Osterfastenzeit, die mit dem Aschermittwoch beginnt. Da deren Abstinenzgebote streng beachtet werden mussten, schufen sich vor allem junge Menschen vorher nochmal eine Art Ventil, indem sie exzessiv aßen und tranken, aber auch tanzten, musizierten, lärmten, ausgelassen feierten und mancherlei komischen Klamauk inszenierten.

Italienische Einflüsse

Schärfere Konturen bekamen die Umtriebe des Fastenvorabends erst im Lauf des 15. Jahrhunderts, als die Kirche immer konsequenter dazu überging, die Fastnacht nicht mehr neutral zu beobachten, sondern sie als negatives Gegenstück zur Fastenzeit zu deuten und ihr damit eine moralische Wertung unterzuschieben. Das führte schließlich so weit, dass manche Prediger das Verhältnis Fastnacht - Fastenzeit sogar analog zu der auf den heiligen Augustinus zurückgehenden Zweistaatenlehre interpretierten, das heißt, die Fastnacht als "civitas diaboli", als vom Teufel regierte, verkehrte, gottferne Welt auslegten, während die Fastenzeit für sie die "civitas Dei" repräsentierte, die Gott wohlgefällige Welt des Heils. Im Zuge dieser Diabolisierung der Fastnacht traten deren Akteure dann auch zunehmend als Teufels- und Dämonengestalten auf, bis seit dem Erscheinen des berühmten Buchs "Das Narrenschiff" von Sebastian Brant 1494 nach und nach die Figur des Narren als Inbegriff menschlicher Unzulänglichkeit zum Hauptrepräsentanten der tollen Tage wurde. Als Massenbewegung für Jung und Alt, für Hoch und Nieder, für Männer und Frauen wie heute, darf man sie sich in der frühen Neuzeit allerdings noch nicht vorstellen. Träger des Geschehens waren zunächst ausschließlich die ledigen jungen Gesellen, der Handwerkernachwuchs also. Bis sich der Kreis der Beteiligten allmählich ausdehnte, sollte es noch Generationen dauern.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts machten sich in den Stadtfastnachten - soweit diese nicht durch die Reformation abgeschafft worden waren - zunehmend italienische Einflüsse bemerkbar: Für 1699 ist im Deutschen erstmals die Verwendung des Begriffs "Carneval" belegt. Die Larven vor den Gesichtern nannte man fortan immer häufiger "mascera", den Mummenschanz insgesamt "mascerada" oder "masquerada". Dennoch zeichneten sich die närrischen Tage im ganzen deutschen Sprachraum trotz modischer italienischer Überformung nicht gerade durch Feinsinnigkeit aus, sondern sie strotzten meist nur so vor Rüpeleien und Grobheiten, was im Zeitalter der Aufklärung zur Folge hatte, dass deren Vertreter danach trachteten, die gesamten Umtriebe der Fastnacht mit ihren furchteinflößenden Schreckfiguren und Groteskgestalten als völlig überholtes Überbleibsel einer dumpfen Vergangenheit abzuschaffen. Folgerichtig häuften sich die Generalverbote.

Erst ab dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde den alten Überlieferungen, wo sie noch vorhanden waren, durch die Romantik neues Interesse entgegengebracht. Jetzt traten neben die restriktiven Maßnahmen der Obrigkeit zur Unterbindung des Unfugs vermehrt Bemühungen des Bildungsbürgertums, das fastnächtliche Geschehen zu "veredeln", zu "sittigen" und ihm einen "gehobenen Geist einzuhauchen". Den spektakulären Anfang machte im Rheinland Köln, wo 1823 mit dem feierlichen "Einzug des Helden Carneval" eine neue Epoche der Festgestaltung anbrach. Andere rheinische Städte folgten dem Kölner Beispiel, und spätestens ab den 40er-Jahren hatte sich die romantische Karnevalsreform flächendeckend durchgesetzt.

Was nun den deutschen Südwesten betrifft, so vollzog sich hier, auch wenn es viele heute nicht wahrhaben wollen, genau dieselbe Entwicklung wie im Rheinland. Am Bodensee, in Oberschwaben, am Neckar, auf der Baar und im Schwarzwald sprach man das ganze 19. Jahrhundert über ebenfalls ausschließlich vom "Carneval". Und entsprechend verhielt es sich mit den einzelnen Brauchelementen: Bälle, Redouten, elegante Salonereignisse des wohlhabenden Bürgertums spielten die Hauptrolle, während auf den Straßen die alten Masken und Vermummungen, wie sie zuvor üblich gewesen waren, mehr und mehr verschwanden. Stattdessen dominierte dort der historische Umzug, meist nach einem Motto gestaltet.

Zur Auseinanderentwicklung zwischen der südwestdeutschen Fastnacht und dem rheinischen Karneval kam es erst relativ spät - etwa um 1900. Während sich in den Metropolen Mainz, Köln, Düsseldorf und Aachen die romantischen Umzüge mit Motivwagen fest etabliert hatten, gab es im Südwesten so etwas wie eine kleine fastnächtliche Konterrevolution oder zumindest eine konservative Brauchreorganisation. In vielen Städten regte sich bei den einfachen Leuten, überwiegend bei den kleinen Handwerkern, Widerstand dagegen, an den närrischen Tagen weiterhin von den "besseren Kreisen" gegängelt, bevormundet und nicht selten auch ausgegrenzt zu werden. Sie holten daher einfach die alten Narrenkleider, wie sie noch verstaubt auf den Speichern gelegen hatten, wieder hervor und kehrten zum Mummenschanz der früheren, das heißt der vorromantischen Fasnet zurück.

Köln machte den Anfang

Im Rahmen dieses Prozesses wurden zwischen 1890 und 1910 zahlreiche Narrenzünfte gegründet. Erstaunlicherweise fand der zunächst ausschließlich von der gesellschaftlichen Basis angestoßene Trend zur Rückbesinnung auch bei den gehobenen Sozialschichten schnell Anklang. Mehrere Faktoren wirkten dabei begünstigend: ein neuerliches Interesse des Bildungsbürgertums an alten Bräuchen im Zeichen des Historismus, eine unbestimmte Begeisterung für alles "Altdeutsche" und fürs "Mittelalter". Von jetzt an herrschte jedenfalls an den Tagen vor Aschermittwoch im deutschen Südwesten ein spürbar anderer Geist als im Rheinland, und nun formierte sich auch Schritt für Schritt die heute beinahe schon ideologisch zu nennende Abgrenzung, ja regelrechte Abwehrhaltung der Fasnet gegenüber dem Karneval. Dass beide Feierformen genau denselben Ursprung haben und lange Zeit kaum Unterschiede aufwiesen, wird aus südwestdeutscher Perspektive gerne unterschlagen.

Die schwäbisch-alemannische Fasnet - der Begriff wurde übrigens erst Anfang der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt - umgibt seit ihrer Profilierung gegen den Karneval zweifellos eine ganz spezielle Aura des Besonderen sowie einer tatsächlichen oder vermeintlichen Urtümlichkeit.

Das Dilemma der Kulturpessimisten

In der Zunahme der Dachorganisationen spiegeln sich zugleich wiederum die enorme Vermehrung der Zünfte und das rasante Wachstum der Fasnet vor allem seit den 70er- und 80er-Jahren. Kulturpessimisten aus den traditionellen Fastnachtshochburgen sehen darin eine inflationäre Entwicklung und beklagen, dass dies dem Brauchtum nicht gut tue. Funktionäre und die so genannten Brauchtumspfleger tun sich besonders schwer. Ihr Bestreben zielt nämlich - vorzugsweise in den alten Narrenstädten - darauf, die dortigen Brauchtumsphänomene auf einem ganz bestimmten Stand ihrer Entwicklung einzufrieren, sie dann in dieser Form als "echt", "original", "historisch" oder gar "althistorisch" zu deklarieren und ihnen fortan jedes Recht auf weitere Veränderung abzusprechen. Das hierbei zwangsläufig auftretende Dilemma resultiert aus der Tatsache, dass Bräuche eben nicht nur von bewahrenden Faktoren, sondern gleichzeitig stets auch von auf Veränderung zielenden Komponenten bestimmt sind, ja dass ihnen eigentlich erst dieses scheinbar paradoxe Spannungsverhältnis konträrer Energien ihren Schwung verleiht.

Die Hochburgen, in denen das heutige Fastnachtsgeschehen nachweislich an eine mehrhundertjährige Tradition anknüpft, kann man beinahe an einer Hand abzählen. Städte wie Villingen, Rottweil oder Laufenburg, deren älteste Maskenbestände bis in die Zeit vor 1700 zurückreichen, gehören sicher dazu. Der weitaus größte Teil der Larven und Figurentypen der schwäbisch-alemannischen Fasnet ist dagegen erst im ausgehenden 19. oder im 20. Jahrhundert geschaffen worden. Und wie sehr die Dinge nach wie vor im Fluss sind, beweist die Tatsache, dass in vielen Orten die Figur der Hexe, die im Gegensatz zu Schellnarren, Hänsele oder Teufeln nicht zum originalen Bestand der südwestdeutschen Fasnet gehört, immer dominanter wird. Die Vitalität des fastnächtlichen Brauchgeschehens, gerade in jüngerer und jüngster Zeit, sprengt alle Grenzen.

Überhaupt verbirgt sich hinter der Fastnacht alles andere als ein, wie die Verfechter der Germanentheorie stets glauben machen wollten, spezifisch deutscher Brauch. In ihrer Buntheit war sie immer offen für Andersartiges, Exotisches, von außen Kommendes. Da gibt es tirolische, italienische, französische, spanische, ja selbst türkische und afrikanische Einflüsse. Ihren Farben- und Formenreichtum, ihre Vielfalt und Faszination verdankt die Fastnacht nicht etwa sturem Beharren auf germanischen Mythen und ängstlicher Abschottung nach außen, sondern ihrer stetigen Empfänglichkeit für Neues und Fremdes.

Werner Mezger

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