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Myriam Louima (links) und ihre Familie bauen sich ein Haus.

© Ingrid Müller

Haiti: Planen für Häuser

Hilfsorganisationen in Haiti helfen beim Bau – lokale Politiker behindern das, wenn sie sich zu wenig beachtet fühlen.

Scheu schaut Myriam Louima Richtung Boden, dann streicht sie mit einem verschmitzten Lächeln um die Augen mit ihrer rechten Hand über die verstaubte graue Plane mit dem USAID-Schriftzug ihrer Behausung. „Die“, sagt sie, „die nehme ich mit. Daraus baue ich mir ein Küchendach.“ Das Haus, von dem die 31-jährige Haitianerin spricht, entsteht ein paar Meter weiter, gerade wird das Betonfundament gegossen. Ihr Mann Boston, ein schon leicht grau werdender Mann mit weißem Helm auf dem Kopf, arbeitet als Maurer mit. Dass einer aus der Familie mit anpackt, ist Voraussetzung, um eins der Häuschen zu bekommen, die die Welthungerhilfe in einem Pilotprojekt für Opfer des verheerenden Erdbebens vom 12. Januar 2010 rund zweieinhalb Autostunden westlich der Hauptstadt Port-au-Prince baut.

Myriam, Mutter von drei Kindern zwischen acht und 16 von drei verschiedenen Vätern, steht etwas verlegen da in ihrem von Totenköpfen gezierten schwarzen T-Shirt. Boston scheint nun ihr Glücksfall zu sein. Sein Großvater hatte das Grundstück gekauft. „Bostons Tante hat mir jetzt die Grundstücksurkunde gegeben“, erzählt sie. Vielleicht weiß sie gar nicht, welches Glück sie damit hat, denn viele Haitianer können nicht nachweisen, dass ihnen Land gehört, auf dem sie bauen könnten. Ein Kataster gibt es nicht, und das Beben verschlang auch viele der so wichtigen Urkunden – eines der Kardinalprobleme beim Aufbau, der auch ein Jahr nach dem Beben sehr schleppend vorangeht.

Eine ganze Reihe von Häusern, die die Hilfsorganisationen aus aller Welt über den zerstörten Karibikstaat bereits verteilt haben, stehen leer. Nur einen halben Kilometer weiter etwa steht dicht an dicht eine Siedlung aus Sperrholzhäuschen. Die haben motivierte, aber nicht ausgebildete spanische Helfer gezimmert. Die Qualität ist nicht besonders, und die Bauherren hatten ihre Pläne nicht mit der Gemeinde abgesprochen. Daraufhin warnte ein lokaler Politiker, sie seien gefährlich, niemand dürfe dort einziehen. So schlimm ist es zwar nicht, aber die Autoritäten vor Ort wollen ernst genommen werden. Für die Menschen, die noch immer unter Planen hausen, die sich langsam in praller Sonne, in Wind und Stürmen zersetzen, ist das kaum zu verstehen. Aber es ist ein viel internationales Geld verschlingender Machtkampf, den es nicht nur hier in Papatam gibt. Im Planungsministerium in Port-au-Prince rechnen sie vor, dass nur 19 von 600 registrierten Hilfsorganisationen mit den Behörden zusammenarbeiten. Der Streit in Papatam zieht sich schon eine Weile hin. Inzwischen haben die Menschen gesehen, dass diese Häuschen nicht sofort einstürzen. Sie fangen an, sie zu besetzen. Auch anderswo läuft einiges schief. Eine Organisation plante Küchen im Haus, erzählt ein Bauexperte. Auf seinen Einwand, dass die Menschen mit Holzkohle kochten, hätten die Planer ihm geantwortet, die Leute sollten Propangas nehmen. Doch das machen sie nicht. Nicht nur in der internationalen Hilfe gibt es allerlei Beispiele für bedenkliche Bauten. Immer wieder sieht man Haitianer, die sich mühen, Häuser wiederaufzubauen, zum Teil durchaus mit Hilfe ausgebildeter Architekten. Die Stützpfeiler aber sind dünn, sie verwenden Metallarmierungen aus zusammengestürzten Häusern, die haben aber „all ihre Spannung verloren“, konstatiert ein erfahrener Bauingenieur. Noch dazu fehlen oft Verstrebungen. Solche Wände werden keinem Beben standhalten.

„Wir sind zwar spät dran, aber mit unserer Methode mindestens so weit wie andere, die früher angefangen haben zu bauen“, sagt der Nothilfekoordinator der Welthungerhilfe, Federico Motka. Der 27-jährige gebürtige Italiener, der Frankfurt sein Zuhause nennt und in Irak, Saudi-Arabien und Dubai aufgewachsen ist, hat sich mit Haut und Haaren dem Bau von Häusern nach Katastrophen verschrieben. Am liebsten würde der Blondschopf mit den strahlend blauen Augen eine Hilfsorganisation nur für solche Häuser aufbauen, damit all die Tücken ausgemerzt werden, die bei deren Bau immer wieder auftauchen. Hier in Haiti versuchen sie Erfahrungen einzubringen, die sie in Birma und Sri Lanka gesammelt haben. Ihre Häuser funktionieren nach dem Ikea-Prinzip.

In der Stadt Jacmel im Süden baut ein kanadischer Haudegen mit kräftig tätowierten Armen gerade in einem ehemaligen Kaffeelager eine kleine Häuserfabrikation auf. Trotz der unsäglichen Zerstörungen vor einem Jahr und der offensichtlichen Vernachlässigung schon vor dem Beben strahlt Jacmel mit seinen großzügigen Bogentüren an den alten Häusern und verspielten Balkonen noch immer den Charme eines kleinen Havanna aus. Einen Steinwurf von Hafen und Strand entfernt, liegen bereits große blaue, gelbe und grüne Schablonen in der selbst während der größten Mittagshitze wunderbar kühlen Halle von William Allen: Seitenteile und Giebel der künftigen Häuser. Auf dem Dach stehen in grellgrün und blau gezimmerte Mustergarnituren für Bänke und Tische, die können auch Arbeiter ohne Ausbildung aussägen. „Wir schneiden hier die Teile nach diesen Mustern zu“, erklärt Fede, wie seine Kollegen ihn nennen. Denn allzu oft würden trotz schönster Pläne die Teile krumm und schief, wenn sie direkt auf der Baustelle und immer wieder neu zugeschnitten werden. Die vorgefertigten Teile müssen nur noch zusammengesteckt werden. Im Moment sind die Wände aus Sperrholz. „Wenn die Leute in ein paar Jahren das Sperrholz ersetzen wollen oder müssen, können sie in den Holzrahmen auch Mauern hochziehen“, sagt Federico Motka. Die Abstände sind so gewählt, dass die Wände selbst bei einem Beben stabil bleiben sollen. Federico Motka nennt es „das geilste Projekt, das wir haben“, denn das Holz, mit dem sie bauen, kommt aus einem Forstprojekt in der Dominikanischen Republik, das die Welthungerhilfe im Nachbarstaat auf der Insel vor rund 20 Jahren gestartet hat. Die Bäume sind nun erntereif, alles kommt aus einer Hand.

Doch das tollste Musterhaus nutzt nichts, wenn die Leute nicht mit einbezogen werden, sagen sie. Die Bürgerbeteiligung à la Papatam machen sie nicht selbst, da verlassen sie sich auf ein haitianisches Ehepaar, das in leuchtend sonnengelben Poloshirts unterwegs ist, er ist Anthropologe, sie Soziologin. Beide setzen sich mit den Leuten zusammen, versuchen, deren Wünsche und Probleme zu erfahren. „Die Leute entscheiden, wer zuerst ein Haus bekommt, nicht wir“, sagt Federico Motka. Rund 2000 Euro kostet so ein Haus. Der Desasterspezialist weiß, dass es Kritik daran gibt, dass ihre Häuser nicht wie die anderer Organisationen nur 1000 oder 1500 Euro kosten. Die haben aber meist kein festes Fundament, sondern sind komplett aus Sperrholz, das im feuchtwarmen Klima Haitis rasch leidet. Zwei Musterhäuschen mit 18 Quadratmeter Wohnraum und einer kleinen Terrasse stehen zur Ansicht und Überarbeitung nach Wünschen der künftigen Bewohner am Rande des Baugebiets. Eins pinseln Arbeiter gerade in Weiß und Rosa an – so wünscht sich auch Myriam Louima ihr Haus.

Bei der Welthungerhilfe hoffen sie, dass ihr Konzept auch bei größeren Geldgebern Interesse findet, denn nur dann können sie die Häuser in großem Stil bauen. Doch inzwischen wird noch ein anderes Problem deutlich. Häuser haben die Menschen in den Projekten bald – aber die meisten haben immer noch keine Arbeit. Myriam Louima hatte, wie so viele hier in Haiti, einen kleinen Handel, bevor ihre Waren vom Beben weggerissen wurden. Die Schulhefte und Stifte für ihre Kinder muss jetzt Boston zahlen. Viele andere haben zwar noch ihren kleinen Handel, aber es gibt kaum mehr Käufer, weil so wenige Menschen einen Job haben.

Beim Wiederaufbau gibt es noch viel zu tun. Nach offizieller Schätzung sind erst fünf Prozent der Trümmer nach dem Beben weggeschafft worden. Auch in Jacmel, wo rund um den Hafen viele historische Gebäude den roten Stempel der Prüfer bekommen haben. Das heißt eigentlich: Abriss. Doch daneben prangt eine weitere Schablonenschrift: historisches Gebäude. Für diese Bauten hat sich sogar schon die Weltkulturerbeorganisation Unesco interessiert, erzählt der umtriebige Präfekt Bolivar Ramilus. Der 55-Jährige hat recht genaue Vorstellungen für seine Stadt. Aber mit dem Geld sei das so eine Sache. Die Regierung habe Dezentralisierung angeordnet, aber Mittel flössen nicht. Die großen alten Kaffeelager am Hafen gehören einigen wenigen Familien, doch auch die scheinen auf andere Geldgeber für die Restaurierung zu warten. „Die Diskussion über eine Beteiligung der Eigentümer ist noch nicht abgeschlossen“, sagt Ramilus, der seine Worte mit dem ganzen Körper unterstreicht. Die historischen Gebäude will die Denkmalbehörde abtragen und wiedererrichten lassen. Wie sie das finanzieren will, ist unklar. Bolivar Ramilus möchte außerdem für ärmere Familien Sozialwohnungen bauen – nicht zuletzt um die Slums im Zentrum loszuwerden, die Touristen abschrecken könnten, die sie gerne anlocken würden. Er will den Müll loswerden und eine ordentliche Anbindung an die Nachbarorte haben. Im Moment, erzählt er im Schatten zweier ausladender Mangobäume, sei Jacmel praktisch eine „abgeschnittene Gemeinde“. Eine bessere Anbindung würde nicht nur den Handel erleichtern, sondern vielleicht auch ein paar der Urlauber aus der Dominikanischen Republik in das pittoreske 40 000-Einwohner-Städtchen lotsen.

Trotz der Bauanstrengungen droht eine große Abwanderung. Viele arbeitslose junge Leute in Jacmel und anderen ländlichen Orten machen sich in Richtung Hauptstadt auf, in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden. Dort leben ein Jahr nach dem Beben trotz der vielen Toten bereits wieder mehr Menschen als vorher.

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