zum Hauptinhalt
Das Landgericht Stuttgart verhandelt erneut gegen den Vater von Tim K.

© dpa

Panorama: Hass auf die Welt

Der Vater des Amokschützen von Winnenden steht erneut vor Gericht. Seine Mitschuld am Tod von 15 Menschen ist umstritten.

Der Mann, um den es geht, ist kaum zu sehen zwischen all den Anwälten. Jörg K. sitzt im Saal 1 am Landgericht Stuttgart hinten links. Vor ihm haben rund zwei Dutzend Juristen Platz genommen. Sie vertreten mehr als 40 Hinterbliebene, deren Töchter, Söhne und Geschwister sein Sohn Tim am 11. März 2009 erschossen oder verletzt hat. Die Anwälte sind überzeugt, dass Jörg K. Mitschuld trägt an dem mörderischen Wahnsinn seines Kindes. Seit Mitte November muss er sich vor der 7. Strafkammer verantworten. Es ist der zweite Prozess gegen ihn. Das Urteil des ersten Prozesses hob der Bundesgerichtshof (BGH) auf.

Jörg K., 53 Jahre alt, ist der Vater des Amokläufers von Winnenden und Wendlingen in Baden-Württemberg. 15 Menschen hat der 17-jährige Tim an jenem Mittwoch erschossen, 14 weitere durch Schüsse verletzt. Die meisten seiner Opfer waren Schülerinnen, Schüler und Lehrerinnen seiner ehemaligen Schule, der Albertville-Realschule in Winnenden. Tim K. erschoss sie in ihren Klassenzimmern und im gesamten Schulgebäude. Auf seiner Flucht tötete er weiter: einen Monteur, einen Autoverkäufer und dessen Kunden. Am Ende richtete der Junge die Waffe gegen sich selbst. 113 Schüsse hat Tim K. an jenem Vormittag abgegeben. Mit einer Neunmillimeterpistole, die er aus dem unverschlossenen Schlafzimmerschrank seines Vaters geholt hatte. Auch die Munition stammt von seinem Vater, einem leidenschaftlichen Sportschützen.

Der Vater habe den Amoklauf erst ermöglicht, so der Vorwurf. Erschwerend käme hinzu, wenn Jörg K. auch noch gewusst haben sollte, dass sein Sohn Mordfantasien hatte. Die Anklage gegen Jörg K. lautet auf Verstoß gegen das Waffengesetz. Er könnte aber auch wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt werden.

Am Prozesstag führen Polizisten den Vater in den Gerichtssaal. Zu seinem Schutz. Nach dem Amoklauf soll es Morddrohungen gegeben haben. Familie K. lebt unter neuem Namen an einem geheimen Ort. Die Familie K. sei durch Tims Tat „schwer traumatisiert“, sagt Astrid L. als Zeugin vor Gericht. Als Tim Amok lief, arbeitete Astrid L. im Kriseninterventionsteam der Johanniter-Unfallhilfe. Sie wurde von der Polizei damit beauftragt, die Eltern und die Schwester des Amokläufers zu betreuen. Astrid L. unterstützte die Familie bis Herbst 2010. Wegen der Drohungen gegen Familie K. habe Tims 13-jährige Schwester weder zur Schule gehen noch Kontakt zu ihren Freunden halten können, berichtet sie. Das Mädchen habe massiv gelitten. Als die Mutter von Jörg K. kurz nach dem Amoklauf starb, habe die Familie der Beerdigung fernbleiben müssen. Zu groß die Gefahr, dass jemand Rache nähme. Die Familie habe mehrfach die Wohnung wechseln müssen. Geklagt hätten sie nie. Ihre Gedanken seien bei den Familien der Opfer gewesen. „Wie können wir das je wiedergutmachen?“, habe Tims Mutter sie einmal gefragt.

Es entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen der Krisenbetreuerin und der Familie. Aber was vertraute Jörg K. der Betreuerin an? Sprach er von Mordgedanken seines Sohnes? Dies ist die Frage, um die es geht. Und dies ist die Frage, die Astrid L. großes Unbehagen bereitet. Tims Vater habe von Tötungsfantasien seines Sohnes nichts gewusst, sagen seine Verteidiger. Im ersten Prozess hielt das Gericht dies aufgrund der Aussage von Astrid L. für widerlegt. Sie ist die wohl wichtigste Zeugin im Verfahren.

Ihr wechselvolles Aussageverhalten war es, das zum jetzt angelaufenen neuen Prozess führte. Im ersten Verfahren gegen Jörg K. hatte die Betreuerin zunächst gesagt, dieser habe ihr schon am dritten Tag nach dem Amoklauf von Mordfantasien seines Sohnes berichtet. Tims Eltern seien von der Klinik darüber informiert worden, dass ihr Sohn einen „Hass auf die Welt“ hegte und manchmal „die ganze Menschheit umbringen“ wollte. Bei der Fortsetzung ihrer Vernehmung knapp zwei Wochen später verlas Astrid L. zur Überraschung aller plötzlich eine Erklärung: Nicht der Vater habe ihr kurz nach dem Amoklauf von den Tötungsfantasien seines Sohnes berichtet, sondern sie habe davon erst durch ein Gutachten fünf Monate nach der Tat erfahren.

Die Staatsanwaltschaft meinte, sie wollte Tims Vater schützen, und leitete Ermittlungen gegen sie wegen des Verdachts der versuchten Strafvereitelung ein. Das Gericht gewährte ihr daraufhin ein Auskunftsverweigerungsrecht. Bei ihrer dritten Vernehmung sagte die Krisenbetreuerin schließlich, ihre erste Aussage sei doch richtig gewesen. Mehr sagte sie nicht. Sie berief sich stattdessen auf ihr Recht zu schweigen. Die Verteidiger des Vaters hatten keine Gelegenheit, sie zu befragen. Ein Verfahrensfehler, entschied der BGH und kassierte das Urteil.

„Sie kann heute nicht mehr sagen, ob die erste oder zweite Aussage richtig war“, lässt Astrid L. dem Gericht diesmal durch ihren Anwalt mitteilen. Sie leide seit ihrer damaligen Vernehmung vor Gericht an einer posttraumatischen Belastungsstörung und könne sich infolgedessen an vieles nicht mehr erinnern. Staatsanwaltschaft und Nebenklagevertreter machen aus ihrer Skepsis keinen Hehl. „Wollen Sie uns heute eigentlich wieder verscheißern?“, entrüstet sich Anwalt Jens Rabe. Er vertritt die Familien von fünf toten Kindern und mehrere Verletzte. Astrid L. weint. Ihr Anwalt legt ein Attest ihrer Psychologin vor. Sie sagt: „Ich kann nur hoffen, dass mir das hier jemand glaubt.“ „Nee“, antworten die Hinterbliebenen im Chor.

Die Chefärztin, der damalige Oberarzt und zwei ehemalige Psychotherapeutinnen der psychiatrischen Klinik in Weinsberg im Landkreis Heilbronn, in der Tim K. von April bis September 2008 in ambulanter Behandlung gewesen ist, verweigern vor Gericht die Aussage. Sie berufen sich auf ihre Schweigepflicht, an die sie auch nach Tims Tod gebunden seien. Was hat Tim K. ihnen berichtet? Welche weitere Behandlung haben sie empfohlen? Was wussten die Eltern? Die Fragen des Richters bleiben unbeantwortet. Er bekommt nur allgemeine Informationen, die jedoch darauf hindeuten, dass die Eltern vom Hass ihres Sohnes gewusst haben könnten. Eltern würden „grundsätzlich“ in die Diagnostik miteinbezogen, sagt die Chefärztin des Instituts für Kinder- und Jugendpsychiatrie: „Ich kann bei einem Kind ohne Eltern keine Diagnostik machen.“ Sie würden auch über das Ergebnis informiert. „Ich habe keinen Fall erlebt, in denen die Eltern nicht miteinbezogen wurden“, sagt auch Tims Psychotherapeutin.

Der BGH hat den Richtern vorsorglich einen Hinweis mit auf den Weg gegeben: Eine „präzise Kenntnis des Angeklagten über das Maß der psychischen Erkrankung seines Sohnes“ sei nicht zwingend erforderlich, um „den Vorwurf der Fahrlässigkeit zu begründen“. Der Vater hätte mit der Tat schon deshalb rechnen müssen, weil er gegen den Rat der Klinik nicht dafür sorgte, dass sein Sohn weiter psychologisch behandelt wurde. Stattdessen ermöglichte er ihm, im Schützenverein das Schießen zu trainieren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false