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Panorama: Heimweh nach Berlin

Warum ein junger Türke eine Verkehrsmaschine entführte

Der junge Mann auf Platz 10 E hatte Heimweh. Heimweh nach Berlin. Özgür Gencaslan sehnte sich nach Deutschland, denn dort ist der in Berlin geborene Deutsch-Türke zu Hause, dort wartet seine Frau. Doch alle normalen Wege für die Reise von der Türkei in die Bundesrepublik waren ihm versperrt, weil er in der Türkei als Fahnenflüchtiger gilt. Deshalb entschloss sich Gencaslan – sein Familienname bedeutet „junger Löwe" – zu einer Verzweiflungstat. Der 22-Jährige, der von den Behörden als labil beschrieben wird, setzte sich in ein Flugzeug der Turkish Airlines von Istanbul und Ankara, drang 20 Minuten nach dem Start ins Cockpit ein und setzte dem Piloten eine Rasierklinge an die Kehle. Der Luftpirat drohte dem Piloten Erol Misir, der den Airbus 310 mit 203 Menschen an Bord steuerte, mit der Explosion einer Bombe und zwang ihn hoch über Anatolien zur Kursänderung Richtung Westen. „Ich will nach Ost-Berlin", rief der Hijacker. Da die Maschine für die Reise nach Deutschland aber nicht genug Treibstoff an Bord hatte, sollte sie in Athen aufgetankt werden. Die griechischen Behörden zögerten zunächst mit der Landeerlaubnis – Athen war besorgt, dass eine Flugzeugentführung kurz vor den Olympischen Spielen im kommenden Jahr dem Image des Landes schaden könnte. Die Tatsache, dass sich in der türkischen Maschine mehrere türkische Parlamentsabgeordnete und ein Ex-Minister befanden, verstärkte den Verdacht einer politischen Tat. Doch Misirs Maschine ging der Sprit aus; begleitet von zwei griechischen Abfangjägern setzte die Maschine schließlich in Athen auf.

Während sich die anderen Passagiere die Zeit vertrieben, indem sie mit ihren Handys aus dem Flugzeug heraus türkischen Fernsehsendern Live-Interviews gaben, griff der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von Ankara aus ins Geschehen ein. Über das Handy eines seiner Parlamentsabgeordneten an Bord sprachen Erdogan und auch der türkische Verkehrsminister Binali Yildirim mehrmals mit dem Luftpiraten. Fünf Stunden nach dem Start der Maschine gab Gencaslan auf und ließ die Passagiere frei. Kurze Zeit später wurde er festgenommen.

Bei den türkischen Behörden erregte Gencaslan vor allem Mitleid. In Berlin hatten sich seine Eltern sich vor Jahren getrennt, Mutter und Schwester gingen zurück in die Türkei. Vor einem Jahr reiste der Mann, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, ebenfalls in die Heimat seiner Eltern, um seine Mutter zu besuchen. Doch das wurde von deren neuen Ehemann verhindert. Frustriert und enttäuscht trieb sich Gencaslan einige Zeit in der Türkei herum und schlug sich als Parkplatzwächter durch. Als er schließlich nach Berlin zurückfliegen wollte, stellte er fest, dass er die Türkei nicht verlassen durfte, weil er seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat. Deshalb versuchte er zunächst, auf einer Fähre über Italien nach Deutschland zu gelangen, doch auch damit scheiterte er. Schließlich entschloss er sich zu der Flugzeugentführung. Die befreiten Passagiere erreichten am Samstagmittag mit einem Ersatzflugzeug aus Athen kommend endlich ihr Reiseziel Ankara. Der Luftpirat wird verhört.

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