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Panorama: Hochbetrieb auf der Davidwache

St. Pauli kommt wieder ins Gerede – die Gewalt nimmt zu. Droht dem Ausgehviertel der Niedergang?

Die Gesetzes des Marktes gelten auch hier. „Kurze für 50 Cent, Cocktails halber Preis“, wirbt eine Bar in der Großen Freiheit um Schnäppchenjäger. „Die Leute haben kein Geld mehr, viele sind pleite“, klagt ein Türsteher an der Reeperbahn, der schon am Nachmittag lautstark um Kundschaft werben muss für Damen, die auf Tischen tanzen. Spesenritter würden von ihren Firmen schärfer kontrolliert, beschwert sich der Mann mit der Baseballkappe, der Euro habe den Kiezgängern die Lust vermiest. Und nun leidet der Ruf des Viertels auch noch unter Berichten über Messerstecher und Gewaltexzesse. Immer öfter muss die Polizei gegen gewalttätige Jugendliche vorgehen.

St. Pauli ist ins Gerede gekommen. Der Hamburger Kiez, der die Clubs für die Tanzwütigen der Stadt gleichermaßen beherbergt wie die Bars für die Jungen und Schönen, nicht zu vergessen die Stundenhotels, ist von Niedergang bedroht.

„Idioten gab es früher auch“, sagt der Türsteher, aber auch er hat beobachtet, was Anwohner auf St. Pauli schon länger beklagen: „Die Kids sind aggressiver geworden.“ Im Juni endete ein Kiezbummel für einen Sohn aus gutem Hause tödlich: Robert K. (22) stand zufällig neben einem Bekannten, der sich auf dem Spielbudenplatz stritt, und wurde dabei von einem 19-Jährigen ins Herz gestochen – „aus dem Nichts“, schrieb die Polizei in ihrem Bericht. Bei einer Messerstecherei in der Diskothek „Glam“ an der Reeperbahn wurde ein Türsteher lebensgefährlich verletzt. Der 26-Jährige verfolgte den Angreifer noch ein paar Meter, dann brach er zusammen. Neun britische Touristen wurden krankenhausreif geschlagen. Laut Kriminalstatistik ist die Zahl der Straftaten auf St. Pauli 2003 um elf Prozent auf 15700 gestiegen. Der Zuwachs in ganz Hamburg betrug nur 0,8 Prozent. Gewaltkriminalität, Mord, Raub oder Körperverletzung, stieg auf St. Pauli um 21 Prozent.

Auf der Davidwache herrscht Hochbetrieb. „Junge, erlebnisorientierte Erwachsense zwischen 18 und 25 Jahren sind unsere Hauptklientel“, sagt Klaus Weber, Vizechef der Davidwache: „Es wird erheblich mehr Alkohol getrunken, die Hemmschwelle sinkt.“ Noch keine 14 war der jüngste Täter – er attackierte bei seiner Festnahme sogar die Beamten. Kiez-Polizisten sind geschult: „Die Kollegen halten Abstand, um Tritten und Faustschlägen ausweichen zu können“, sagt Weber. Im Hamburger Rathaus formiert sich nun eine Koalition aus CDU und SPD: Schärfere Waffenkontrollen und ein Messerverbot auf dem Kiez sollen her; auch verstärkte Videoüberwachung ist im Gespräch. „Bei den 20 bis 30 Jahre alten Männern gibt es eine bestimmte Gruppe, bei der das Messer locker sitzt“, sagt Karl-Heinz Warnholz (CDU), der Vorsitzende des Innenausschusses der Bürgerschaft. Er habe auch mit verdachtunabhängigen Kontrollen auf dem Kiez kein Problem, sagt der Bezirksamtsleiter von Hamburg-Mitte, Markus Schreiber (SPD), und unterstützt damit Innensenator Udo Nagel (parteilos). Andreas Dressel (SPD): „Messer machen Mörder.“ Allein Antje Möller (GAL) fragt in einer Kleinen Anfrage den Senat, ob verdachtunabhängige Kontrollen diese Gewalttaten überhaupt hätten verhindern können.

Dabei war St. Pauli ja auf einem guten Weg. Multi-Kulti-Küchen, avantgardistische Musikclubs und Open-Air-Spektakel locken ein jugendliches Publikum auf die Meile. Die Theatermacher Corny Littmann und Norbert Aust haben mit „Schmidts Tivoli“ und dem „Schmidt Theater“ seit langem ein freches Großstadtprogramm etabliert. Und dem FC St. Pauli folgen die Fans ohnehin bei jeder Berg- und – vor allem – Talfahrt. Frank Fechner, Manager des Regionalligaclubs: „Stadtteil und Verein stehen für Toleranz, Weltoffenheit und den Willen, sich eine Scheibe vom Glück abzuschneiden.“

Bezirkschef Schreiber sieht eine „dynamische Entwicklung“ des Stadtteils mit neuen Wohnungen und gemischtem Gewerbe: „Auf dem Kiez kann man gut wohnen.“ Derzeit erhitzt die Neugestaltung des zentralen Spielbudenplatzes die Gemüter. Ein Entwurf des US-Künstlers Jeff Koons ging baden: Die Idee, einhundert Meter hohe Kitsch-Kräne zu installieren, war dem CDU-Schill-Senat 100000 Euro wert. Der Platz sei „eine Visitenkarte für ganz Hamburg“, sagt Stadtentwicklungssenator Michael Freytag (CDU). Er erwärmt sich nun für den Siegerentwurf eines Wettbewerbs: Der 250 Meter lange und 40 Meter breite Platz soll mit hochglänzenden Edelstahlquadraten und Leuchtdioden gepflastert werden. Auch dieser Vorschlag stößt auf geteiltes Echo: Kalt, abweisend und ungeeignet für Großveranstaltungen sei die Metallhaut, heißt es. Negative Berichte hätten bisher keinen Einfluss auf die Gästezahlen, berichtet die Hamburg Tourismus GmbH: „Wer hierher kommt, weiß, dass es auf der Reeperbahn etwas rauer zugeht“, sagt Guido Neumann. Thomas Collien, Geschäftsführer des St.-Pauli-Theater, fordert, die Ursachen für die hohe Gewaltbereitschaft zu erkennen, um der Brutalität besser Herr zu werden. An der Davidwache ist nun eine „Dienstgruppe Präsenz“ im Einsatz. Rund um die Uhr sind bis zu 40 Beamte rund um die Reeperbahn unterwegs, Beamte der Davidwache, Bereitschaftspolizisten und Zivilfahnder. „Beruhigung bekommt man durch das Zeigen weißer Mützen“, weiß Klaus Weber. Die neue Angst vor Messerstechereien führt er auf die jüngsten Schlagzeilen zurück. Im Alltag aber greifen Gewalttäter viel öfter mit anderem an: „Die meisten Körperverletzungen werden mit Flaschen begangen“, sagt der Mann von der Davidwache, „mit Alcopop- und Bierflaschen.“

30000 Menschen leben auf St. Pauli. An Wochenenden drängen sich 150 000 Menschen rund um die Reeperbahn; 25 Millionen Besucher kommen jährlich. 44 Clubs und Diskotheken locken das Partyvolk. 500 Prostituierte gehen hier ihrer Arbeit nach. 13 Prozent der Bevölkerung beziehen Sozialhilfe, ein Drittel sind Einwanderer und Asylsuchende. 700 Betriebe sind legal angemeldet. gb

Günter Beling[Hamburg]

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