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Hurrikan Sandy: Die Nacht der Zerstörung

Blitze am Himmel, Sturm, Feuer, Stromausfall. Der Hurrikan „Sandy“ trifft den Osten der USA am Dienstag mit voller Wucht. Aber die Stunden der Naturkatastrophe sind auch die Zeit der unscheinbaren Retter und Helden.

Nicht alle haben zwei Mal Glück. New York – genauer: Manhattan – ist für viele Menschen rund um den Globus der Inbegriff des amerikanischen Traums. Die Stadt, die niemals schläft; in der alles möglich zu sein scheint; wo mehr Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Kultur und Religion zusammenleben als an jedem anderen Ort der Welt.

Dank seiner Lage am Meer war New York für Millionen Einwanderer und Besucher im Laufe der Jahrhunderte das Tor zu den USA. In der Nacht zu Dienstag wurde diese Lage der Stadt zum Verhängnis. Vor 14 Monaten hatte sie noch Glück gehabt. Hurrikan "Irene" zog draußen auf dem Meer vorbei. Ganz anders "Sandy": Im Battery Park an der Südspitze Manhattans tritt das Wasser am Montagabend über die Ufer. Die Überflutung erreicht bald einen neuen Rekord: nochmals einen halben Meter höher als 1960 bei Wirbelsturm „Donna“. Bald stehen Straßenzüge im Finanzdistrikt unter Wasser. Autos treiben darin wie führerlose Boote.

Wenig später zucken Blitze über den Himmel; mehrmals knallt es laut. Explosionen oder Donnerschläge? Bald darauf lodert Feuerschein über einzelnen Vierteln auf. Der Sturm und die herumfliegenden Äste und Trümmer reißen Stromleitungen herab. Die unter Strom stehenden Kabel lösen Brände aus. Dann schalten die Energiekonzerne vielerorts vorsichtshalber die Elektrizität ab. Manhattan, wo zu normalen Zeiten unzählige Leuchtreklamen die Nacht zum Tag machen, versinkt im Dunkel. Nur vereinzelte Gebäude verfügen über eine eigene Energieversorgung oder Notstromaggregate, zum Beispiel das Empire State Building. Ihre Lichter wirken wie vereinzelte Glühwürmchen und verlieren sich im Grauschleier der Wasserfontänen, die der Sturm durch die Straßenschluchten treibt.

Unseren Liveticker zu den Ereignissen an der US-Ostküste können Sie hier nachlesen.

Die U-Bahn hat schon viele Stunden zuvor ihren Betrieb eingestellt – aus Sorge, dass Wasser in das Tunnelsystem eindringen und den Starkstrom der Antriebsschiene weiterleiten könnte. Auch die Autotunnel, die Manhattan im Westen mit New Jersey und im Osten mit Brooklyn verbinden, sind gesperrt. Ebenso die Brücken. Die Flughäfen sind geschlossen. Die langgestreckte Halbinsel ist so gut wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Es ist unklar, wann die U-Bahnzüge wieder fahren werden. Die Zerstörungen seien die schlimmsten in der 108-jährigen Geschichte des Transportsystems, sagt das Management am Dienstag.

„Bleiben Sie, wo Sie sind“, hatte Bürgermeister Michael Bloomberg geraten, als die Fernseher und Radios noch liefen. Draußen auf der Straße ist es lebensgefährlich wegen der herumfliegenden Straßenschilder und Trümmer. Nahe der Carnegie Hall knickt „Sandy“ den Ausleger eines riesigen Baukrans ab, als wäre er ein Strohhalm. Warum wurde er nicht rechtzeitig abgebaut? Nun baumelt tonnenschwerer Metallschrott unzählige Stockwerke über der Straße im schweren Wind – wie ein Damoklesschwert.

Dann laufen die ersten Todesmeldungen ein. „Sandy“ bedroht nicht nur New York. Der Wirbelsturm misst, von Flanke zu Flanke, weit über tausend Kilometer. Für zwölf Bundesstaaten, von Virginia im Süden bis Maine im Norden, wurde der Notstand ausgerufen. Rund 65 Millionen Menschen leben im Bereich der nördlichen Atlantikküste, mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der USA.

Im Stadtteil Queens wird ein 29-Jähriger in seinem Haus von einem Baum erschlagen. Ebenfalls in Queens stirbt ein Mann an einem Stromschlag. In Morris County in New Jersey fällt ein Baum auf das fahrende Auto eines Ehepaars und tötet beide. Bei anderen sturmbedingten Verkehrunfällen im Umkreis der Stadt New York und viele hundert Kilometer weiter südlich in Virginia sterben weitere Menschen. In Pennsylvania erschlägt ein Baum einen Achtjährigen im Freien. Im Landkreis Westchester im Staat New York werden zwei Kinder beim Spielen drinnen getötet, als ein Baum durch das Dach des Hauses stürzt.

Angesichts der vielen Gefahren ist dies auch die Nacht der unscheinbaren Retter und Helden. Feuerwehrleute holen Hunderte aus überschwemmten Wohnungen und von aufgerissenen Dächern. Freiwillige tragen Patienten des NYU Languone Medical Centers durch das dunkle Treppenhaus in Sicherheit, als die Evakuierungsanordnung kommt, der Strom und damit auch die Fahrstühle aber bereits ausgefallen sind.

Dass ein solcher Sturm sich in den Norden verirrt, ist eine Ausnahme

„Ausnahmezustand“ ist aus vielen Gründen ein passendes Wort für den Umgang mit „Sandy“ im Nordosten der USA. Im Süden gehören Wirbelstürme zur Routine: in Florida, Mississippi, Alabama, Louisiana und Texas. Weiter nördlich haben die Menschen wenig Erfahrung, was man zur Vorsorge tut und wie man mit den Gefahren umgeht. Hurrikans bedrohen normalerweise nur den Südteil der Atlantikküste bis auf die Höhe der Outer Banks, die North Carolina vorgelagert sind. Ihr eigentliches Revier ist der Golf von Mexiko. Sie brauchen warmes Wasser, um Energie aufzutanken. Über kühlem Meer verlieren sie an Kraft. Und wenn sie sich über Land bewegen, haben sie schon nach 20, 30 Kilometer den Großteil ihrer Energie eingebüßt.

Dass ein Hurrikan sich so weit nach Norden verirrt wie jetzt „Sandy“, ist die Ausnahme. Die relative Wärme des Golfstroms und eine seltene Konstellation von Jetstreams und Tiefdruckgebieten haben dazu beigetragen. Und nun, da ein Wirbelsturm es mal so weit nach Norden geschafft hat, haben die gegenläufigen Druckverhältnisse der parallelen Wetterverhältnisse zur Folge, dass die Front besonders lange auf der Stelle verharrt. Das potenziert die Zerstörungskraft. Erst weichen stundenlange Regenfälle die Böden auf. Dann kommt der Sturm hinzu, stürzt Bäume um, deren Wurzeln im nassen Boden weniger Halt finden, und peitscht das Wasser in jede sich bietende Öffnung.

Da der Nordosten selten mit einem Hurrikan konfrontiert ist, spielt die Vorsorge bei den Bauplanungen eine geringere Rolle als im Süden. Die Strandpromenade in Atlantic City, dem Spielerparadies von New Jersey, hält dem Wirbelsturm nicht stand. Im Bergen County, ebenfalls New Jersey, bricht ein Damm.

Washington ist da kaum besser gewappnet. Aber die Hauptstadt kommt glimpflich davon. Sie wird nur von Ausläufern des Sturmtiefs gestreift. Am Morgen nach der Hurrikan-Nacht sind 150 000 Haushalte ohne Strom. Reparaturmannschaften machen sich daran, die Leitungen zu flicken. Schulen und Behörden bleiben den zweiten Tag in Folge geschlossen.

So wendete sich Washington, nachdem die unmittelbare Gefahr vorüber zu sein schien, wieder den politischen Spekulationen zu – ganz wie es einer Hauptstadt im Wahlfieber gebührt. Wird „Sandy“ mitentscheiden, ob Barack Obama eine zweite Amtszeit gewinnt oder Mitt Romney ihn ablöst? Die Drehbücher für den einen wie den anderen Fall können die Wahlkampfstrategen beider Teams im Schlaf herunterbeten. George W. Bush hat die eine Variante erfahren, als Hurrikan „Katrina“ 2005 New Orleans zerstörte und er lange untätig blieb. Bilder, die einen mitfühlenden Präsidenten zeigen, der sich um Opfer kümmert, und der Eindruck eines gelungenen Krisenmanagements polieren das Image hingegen auf. In Wahrheit wissen beide Lager, dass der Präsident nur wenig Einfluss auf den Ausgang hat. Es hängt auch vom Glück ab – und davon, wie gut sich die Katastrophenschützer auf den Ernstfall vorbereitet haben.

Barack Obama hatte seinen Wahlkampf am Montagvormittag in Florida abgebrochen, war nach Washington zurückgekehrt und ließ sich im „Situation Room“ unter dem Weißen Haus über die Entwicklung informieren. Als Kümmerer in Gummistiefeln im Katastrophengebiet sah man ihn am Dienstag – noch – nicht.

Auch Romney sagte seine Termine ab und bemühte sich, den mitfühlenden und nachdenklichen obersten Manager herauszukehren. Er empfahl seinen Anhängern, die so genannten „Yard Signs“ – Werbeposter mit seinem Namen an Drahtgeflechten, die man in die Vorgärten steckt – zu entfernen, damit sie nicht vom Sturm herumgewirbelt werden und womöglich Menschen verletzen.

Der demonstrative Verzicht auf Wahlkampfauftritte angesichts einer Nation in Hurrikangefahr betraf freilich nur die beiden Spitzenkandidaten selbst. Ihre liebsten Ersatzleute waren weiter in entscheidenden Swing States unterwegs: Michelle Obama in Iowa. Jill Biden, die Frau des Vizepräsident, in Colorado. Ann Romney in Wisconsin und Iowa. Das Rennen ist so knapp, dass keine Seite völlig darauf verzichten möchte, Wähler in den letzten sieben Tagen vor der Wahl durch persönliche Ansprache für sich zu gewinnen.

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