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Ich habe verstanden: Matthias Kalle über Winnenden und Killerspiele

Der Jahrestag des Amoklaufs von Winnenden wurde mit Würde begangen. Die Medien hielten sich zurück – und doch gibt es eine Debatte, die ich nicht verstehe, eine kalt geführte, zynische Debatte.

Gestern vor einem Jahr erschoss in Winnenden ein Amokläufer 15 Menschen und dann sich selbst. Eine Katastrophe, eine Tragödie, ähnlich wie das, was am 26. April 2002 in Erfurt passiert ist und am 20. November 2006 in Emsdetten. Junge Männer betreten bewaffnet eine Schule, um zu töten, am Ende töten sie sich selbst.

Ähnlich ist auch das, was nach so einer Tat passiert, da fragen dann alle nach einem „Warum“, und weil sie diese Frage nicht beantworten können, weil es auf diese Frage keine Antwort gibt, geht es dann um strengere Waffengesetze und um das Verbot so genannter „Killerspiele“. Es ist ein Reflex, der aus Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit entsteht. Gut gemeint, mit Sicherheit. Aber.

Das „aber“ ist größer, vielleicht sogar wichtiger. Der Jahrestag von Winnenden wurde mit Würde begangen, Bundespräsident Horst Köhler wählte dir richtigen, die tröstenden, die aufrechten Worte. Die Medien hielten sich zurück – und doch gibt es eine Debatte, die ich nicht verstehe, eine kalt geführte, zynische Debatte, in der es um die Täter geht, darum, wie man etwas verhindern kann, dass sich nicht verhindern lässt – eine Debatte, in der es nicht um die Opfer geht. Im aktuellen „Spiegel“ ist eine Reportage der Autorin Dialika Krahe, die Menschen besucht hat, die Winnenden und Erfurt erlebt haben. Es ist ein erschütternder, ehrlicher Text, in dem es um die Überlebenden geht, um ihr Leben danach, darum, wie die Gesellschaft versucht, diese Menschen aufzufangen, wie schwierig es ist, zurück zu finden. Es ist ein Text, in den es um Menschlichkeit geht, um Anteilnahme, um die einfache Frage: Wie geht es eigentlich dem anderen? Ein Text gegen die Kälte.

Denn vielleicht war es genau diese Kälte, die aus Robert Steinhäuser und aus Tim K. Mörder und Amokläufer gemacht hat – aber das ist komplizierter, eine Diskussion darüber rüttelt an den Grundfesten unserer Leistungsgesellschaft – ein Verbot von Killerspielen zu fordern ist einfacher. Ich will nicht schreiben: dümmer. Aber.

Einen Tag nach Winnenden schätzte der Gymnasiast Johannes Struzek in der Sendung „Hart aber fair”, dass 16 seiner 16 männlichen Klassenkameraden „Counterstrike” spielen würden – jenes Killerspiel, dessen Name immer, immer fällt, wenn von einem Amoklauf berichtet wird. Vier Tage nach Winnenden erschien in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ ein Text von Harald Staun. Es ist ein bemerkenswerter Text, in dem nicht eine Frage beantwortet wird und in dem es auch um das Buch „Ich bin voller Hass – und das liebe ich“ geht. Das Buch ist ein „dokumentarischer Roman“, zusammengestellt von Joachim Gaertner, es besteht nur aus Originaldokumenten, die Ermittler nach dem Amoklauf an Columbine-High-School in Littleton 1999 zusammengetragen haben. Es sind Tagebuchaufzeichnung, Schulaufsätze der beiden Amokläufer. Staun schrieb damals: „Die Obsession aber, mit der immer wieder Computerspiele als Ursache in die Debatte gebracht werden (und neuerdings verstärkt das Internet), ist nicht nur die Folge von Unkenntnis und Kulturpessimismus, sondern letztlich auch nur das Erbe des abendländischen Ursachenfetischismus, der glaubt, man müsse nur lange genug graben, bohren, fragen oder hinhören, um am Ende einen Grund, ein Motiv, einen Ursprung zu finden.“

Stauns Text damals trug die Überschrift „Es gibt nichts, was ihr hättet tun können“. Er stammt aus den Tagebüchern der Littleton-Attentäter, Tagebücher, die manchmal nur die ganze Zerrissenheit und Sehnsucht und Angst der Jugend zeigt, manchmal aber auch den ganzen Hass auf die Menschen. Mordphantasien, Größenwahnsinn – aber auch Hoffnung darauf, jemanden zu finden, der einen liebt und versteht. Wer das liest und sich einigermaßen realistisch an seine eigene Jugend erinnern kann, der erschreckt oft bei dem Gedanken, welcher Zufall, welche Kleinigkeit, welches Glück ihn eigentlich davor bewahrt hat, diese eine Grenze zu überschreiten.

„Es gibt nichts, was ihr hättet tun können.“ Das klingt so hart und ist wahrscheinlich so wahr. Und ändert zum Glück nichts daran, dass man jetzt etwas tun kann, dass man vielleicht doch einen letzten Rest von Sinn aus Winnenden und Erfurt und Emsdetten und Littleton zieht – das Leben der Opfer, die nicht getötet wurden, ermahnen einen dazu. Man kann sich sorgen und zuhören und auffangen, wenn einer strauchelt. Man kann versuchen, ein guter Freund zu sein, ein guter Vater, eine gute Mutter – man kann versuchen das zu sein, was der Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee in seinem neuen Roman „Sommer des Lebens“ einen „feinen Menschen“ nennt. Die Ohnmacht vor den Qualen, die Menschen den Tieren antun, gipfelt in Coetzees Entschluss, Vegetarier zu werden, und das kann man albern finden und ihn für einen Öko-Hippie halten; aber es ist eine Konsequenz in der Lebensführung, die mit Sicherheit nicht mehr Leid fördert. Ein feiner Mensch. So peinlich es klingt – so schön ist die Idee. Aber.

Aber es kann auch sein, dass das alles dummes Zeug ist. Es kann sein, eben weil ich die Taten der Amokläufer nicht verstehe, niemals verstehen kann, dass ich eine Hoffnung in etwas setze, was leider hoffnungslos ist.

Nichts habe ich verstanden, gar nichts. Genau so, wie alle anderen auch.

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