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Panorama: Ihr Kinderlein kommet

Brave Magdeburger als sensible Punkrocker: Das Chart-Hit-Wunder „Tokio Hotel“

Wenn man sich mit Bill (16), Tom (16), Gustav (17) und Georg (18) in einem Café auf Cheeseburger und Cola trifft, dauert es keine fünf Minuten, bis sich davor eine Menschentraube bildet. Die vier aus Magdeburg sind „Tokio Hotel“. Ihre Single „Monsun“ hielt sich fünf Wochen auf Platz eins der Charts, das Debüt-Album „Schrei“ erreichte schon vier Tage nach der Veröffentlichung Gold-Status.

Tokio Hotel sind das neue deutsche Chartwunder. Die vier haben sich eine ganze Weile durch Magdeburger Clubs und durch die Probenräume des „Gröninger Bad aktion musik e. V.“ gespielt, bevor sie der Produzent Peter Hoffmann – der sich sonst mit Marianne Rosenberg und Oli P. beschäftigt – zufällig entdeckte. Zwei Jahre wurden sie von einem Team gehegt und gepflegt, das aus so vielen Produzenten besteht, wie die Band Mitglieder hat. Sie wurden als Zielgruppenband für Teenies aufgebaut. Der Plan ging auf. Tokio Hotel machen jugendlichen Punkrock und singen Texte des Übergangs – weniger liebevoll gesagt: Texte der Pubertät, über das Nichtverstandenwerden und das Nichteinverstandensein, über Rebellion und Außenseiter; über die ersten Verdachtsmomente, dass das Leben nicht einfacher wird, wenn man erst mal erwachsen ist. Mit „Gegen meinen Willen“ haben sie – wie vor 27 Jahren Andrea Jürgens mit „Und dabei liebe ich euch beide“ – auch ein Scheidungslied im Programm: „Wie soll es mir schon gehen / Ihr guckt euch nicht mehr an / unser Ende ist schon hier / und ihr sagt es nicht vor mir.“

„Unsere Generation ist davon ja extrem betroffen“, sagt Bassist Georg „und weil wir im gleichen Alter sind, können unsere Fans sich damit identifizieren“. Scheidungskind Tom meint: „Unsere Eltern haben damals zwar alles richtig gemacht, aber wir wollen den Leuten Kraft geben, bei denen es nicht so gut läuft.“ Liegt in diesem Sendungsbewusstsein das Erfolgsgeheimnis von Tokio Hotel? „Wir sind einfach näher dran. Das ist unser Vorteil. Wir wissen, was in Jugendlichen vorgeht.“

Doch woher kommt die Rebellengeste? Die Rolle des Sonderlings hatten Sänger Bill und Gitarrist Tom – eineiige Zwillinge – schon im Kindergarten. Ihre Eltern aber sind ausgesprochen verständnisvoll: Dass ihre großen Konzerte beim WDR-Jugendsender „Eins Live“ abgesagt wurden, hat keineswegs mit einem Verbot zu tun. „Das ist ein Gerücht“, stellt Tom mit Nachdruck fest. „Es ist einfach so, dass so eine Truck-Tour auf öffentlichen Plätzen und ohne Absperrungen zu gefährlich ist. Nicht für uns. Für die Fans.“

Tokio Hotel haben Erfahrung mit hysterischen Teenies. Ein normaler Schulbesuch ist für die Bandmitglieder nicht mehr möglich: Mittlerweile kommt es zu regelrechten Belagerungszuständen vor ihrem Magdeburger Gymnasium – ein Gebäude ohne Hinterausgang. Erst war das amüsant, dann aber begann der Schulbetrieb insgesamt darunter zu leiden. Statt Schule gibt’s für Tokio Hotel jetzt deshalb Privatunterricht. Der Rückzug findet in aller Stille statt. Irgendwann wird es dann vermutlich wie damals bei Elvis heißen: „Tokio Hotel has left the building.“

Weil die vier Nachwuchs-Rock’n Roller aber nicht volljährig sind, müssen in allen Geschäftsfragen nicht nur die Eltern ihre Zustimmung geben – auch das Vormundschaftsgericht spricht mit: Dort prüfte man sehr genau, ob nicht die Eltern ihre Schützlinge zu Arbeit und Erfolg drängen. Die Behörde befragte die Jungmusiker einzeln und besuchte ihre Familien zuhause. Am Ende gab es keine Einwände –, wenn aber ein Konzert mal länger als bis 22 Uhr dauern soll, holt sich ihr Tourleiter das Einverständnis vom Jugendamt. Die Zusammenarbeit, so hört man, ist regelmäßig und gut.

Noten lesen können Tokio Hotel übrigens kaum. Musik haben sie in der Schule abgewählt. Dass Musikunterricht bedeutet, von einer greisen Lehrerin dazu aufgefordert zu werden, vor der Klasse „Ein kleiner grüner Kaktus“ zu singen und dazu zu tanzen – „das konnte ich nicht mehr mit mir vereinbaren“, sagt Bill: „Ich muss ein Lied schon fühlen, damit ich es interpretieren kann.“

Bill und Tom können sich eigentlich nichts anderes vorstellen, als auf großen Bühnen zu stehen – denn das wollen beide schon, „seit wir ganz klein waren“. Kein Wunder: Ihre Mutter ist freischaffende Künstlerin, der Stiefvater spielt in einer Hardrockband und betreibt eine kleine Musikschule, in der man keine Noten lernt. Weil es bald schon wieder vorbei sein könnte mit dem Erfolg, wollen alle vier auf jeden Fall ihr Abitur machen. Georg würde dann Zahnmedizin studieren.

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