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Klare Ansage. Auf einem Gerüstturm lassen Aktivisten aus dem Lager der Landfahrer die Öffentlichkeit wissen, dass sie sich nicht vertreiben lassen wollen.

© Olivia Harris/Reuters

Ihre kleine Farm: Bevorstehende Räumung im englischen Essex

In England warten 40 Landfahrerfamilien auf ihre Räumung – sogar die UN schalteten sich ein.

Jubel und Verzweiflung wechseln sich im englischen „Dale Farm“ wie Regen und Sonne ab. Am Freitag war der Himmel noch blau. Nach einer Pressekonferenz wurde über dem provisorisch eingerichteten „Medienzentrum“ die UN-Flagge gehisst. „Keine ethnischen Säuberungen in Dale Farm“, stand auf einem Plakat, das Mitglieder der irischen Landfahrerfamilie Sheridan hochhielten. Die UN-Kommission gegen Rassendiskriminierung hatte in dem Streit, der seit Wochen um das Landfahrerlager bei Basildon in Essex tobt, die irische Familie und deren Freunde in Schutz genommen.

Die bevorstehende Räumung von fast 400 irischen Landfahrern auf dem Gelände von „Dale Farm“ in Crys Hill bei Basildon – also dem illegalen Teil der Siedlung – sei „unverhältnismäßig“, erklärte die UN-Kommission. „Landfahrer und Zigeuner müssen bereits unverhältnismäßige Diskriminierung und Feindseligkeit hinnehmen. Die Kommission ist tief besorgt, dass die Aktion diese Situation verschlimmern wird“, hieß es. Damit reihten sich die Vereinten Nationen in die Reihe prominenter Sympathisanten ein, zu der bereits das irische Außenministerium, englische Bischöfe und die Schauspielerin Vanessa Redgrave gehören. Am Sonntag kam eine Delegation jüdischer Rabbiner. „Landfahrer sind, wie Zigeuner und andere Gruppen mit einem ähnlichen Lebensstil, offiziell als ethnische Minderheiten eingestuft, genau wie unsere jüdischen Gemeinden. Sie verdienen den Schutz der europäischen Menschenrechtsgesetze“, sagte Rabbi Janet Burden.

Trotz des Zuspruchs war die Stimmung am Sonntag im Lager trübe – vielen wurde wohl die Spannung zu viel. Anwohner der „Dale Farm“ wollten angesichts des Sturms negativer Berichterstattung in den Zeitungen mit niemandem reden, hieß es. Aber dem „Daily Telegraph“ sagte die Tochter von Bridget Sheridan doch: „Sie wollen doch, dass wir alle tot sind. Meine Mutter will nur noch sterben. Die Ärzte haben ihre Antidepressiva verdoppelt.“

Zehn Jahre lang beschäftigte der Streit um die Landfahrer in Essex Behörden und Gerichte. In der vergangenen Woche lief die letzte Frist ab, die letzte Eingabe der 86 illegalen Familien wurde abgelehnt. Nun steht der Räumung des wohl größten Landfahrerlagers in Europa nur noch die internationale Solidaritätsaktion im Wege.

Lesen Sie weiter: Vorbereitung auf die Konfrontation.

Zuspruch. Die Schauspielerin Vanessa Redgrave (l.) unterstützt die Landfahrer.
Zuspruch. Die Schauspielerin Vanessa Redgrave (l.) unterstützt die Landfahrer.

© Reuters

Tony Ball, Gemeindevorsitzender von Basildon, hofft zwar, dass die Betroffenen sich freiwillig auf den Weg machen. „Eine direkte Räumungsaktion ist für uns das allerletzte Mittel – aber die Landfahrer scheinen uns keine Wahl zu lassen“, erklärte er. Wer Vergleiche mit der Zigeunerverfolgung der Nazis ziehe, „der beleidigt jeden, der im Holocaust gelitten hat“, warnte er.

Alle Seiten bereiten sich nun auf die Konfrontation vor. Die „Operation Cabinet“ soll Basildon 18 Millionen Pfund kosten. Durchgeführt wird die Räumung mit Hilfe der unter Landfahrern gefürchteten Firma Constant & Co. – Gerichtsvollzieher und Schuldeneintreiber, die auf die schnelle Räumung von illegalen Landfahrerlagern spezialisiert ist. Die Polizei von Essex sucht für die Aktion nach Freiwilligen aus anderen Polizeieinheiten. Es winken Überstunden – man rechnet damit, dass die Räumung bis zu acht Wochen dauern könnte. Nach den Studentendemonstrationen und Massenplünderungen vom August stehen den Briten einmal mehr schlagzeilenträchtige Schlachten mit Demonstranten bevor.

Im „Camp Constant“, dem Solidaritätslager in „Dale Farm“, werden nun Freiwillige gesucht, die sich als „Rechtsbeobachter“ ausbilden lassen. Andere, wird behauptet, bereiteten mit Benzin getränkte Strohballen vor. Nach Angaben der Polizei könnte die Zahl der Aktivisten auf 2000 anschwellen – Menschenrechtsenthusiasten für die einen, auf Gewalt erpichte Krawallfreunde für die anderen. „Diese Organisationen sind nun das Hauptproblem. Sie kommen mit eigenen, übergeordneten Motiven, um Probleme zu schaffen“, sagte Stadtchef Ball.

Die Geschichte von „Dale Farm“ geht in die 1970er Jahre zurück, als Basildon 40 irischen Landfahrerfamilien die Bau- und Siedlungsgenehmigung auf dem Grundstück gab. Aber dieser legale Teil von „Dale Farm“ endet dort, wo die Aktivisten nun einen Gerüstturm errichtet haben. „Willkommen im Camp Bastion“, ist dort auf einem Schild zu lesen. Hier beginnt der illegale Teil von „Dale Farm“. Dieser Teil liegt auf dem Grundstück, das ein Schrotthändler den Sheridans verkaufte – aus Wut darüber, dass man ihm die Baugenehmigung auf dem als „Grüngürtelland“ geschützten Land verweigerte. Die Sheridans kamen, betonierten die Fläche zu und begannen sich auszubreiten. Nun leben 40 Familien in dem illegalen Teil.

Lesen Sie auf Seite drei wie es mit den Landfahrerfamilien weitergeht.

Die Stadt Basildon wollte sich nicht erpressen lassen und verweigerte auch den Landfahrern die Baugenehmigung. Neue Gesetze sollen es verbieten, dass solche Genehmigungen rückwirkend an Parteien erteilt werden, die einfach rechtswidrig vollendete Tatsachen schaffen. Viele behaupten, dies sei die einzige Methode, wie sich Landfahrer über die angebliche Diskriminierung bei ihren Anträgen hinwegsetzen können. Sympathisanten wie Vanessa Redgrave argumentieren, die Verweigerung der (nachträglichen) Genehmigung für das illegale Lager laufe auf „ethnische Säuberung“ hinaus. Menschenrechte der Landfahrer seien wichtiger als der Schutz des Grüngürtels, sagte sie.

Anders als die Vereinten Nationen unterstützen britische Politiker die Räumung. „Das Recht muss im ganzen Land für alle Menschen gelten, egal, wo sie sind und welchen Hintergrund sie haben“, erklärte Labour-Chef Ed Miliband. Premier David Cameron hält es für „unfair, wenn es ein Gesetz für alle und ein anderes für Travellers geben würde“. Basildon weist darauf hin, dass man schon mehr Travellers beherberge, als die meisten Gemeinden in der Region und für Obdachlose Sozialwohnungen zur Verfügung gestellt würden. Aber das lehnen die irischen „Tinkers“ ab. „Sie sind Nomaden, auch wenn sie heute nicht mehr nomadisch leben. Sie leben in Wohnwagen, damit sie Teil ihres großen Familienverbandes bleiben können“, erklärte Jake Bowers, ein Roma, der das Magazin „Traveller Times“ herausgibt. Am Dienstag beginnt in Crays Hill die Schule. Man wird sehen, was mit den hundert Kindern von der „Dale Farm“ passiert.

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