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Panorama: In der Dunkelheit erleben die Opfer die Katastrophe immer wieder von Neuem

"Ich hasse die Nacht", flüstert Necla Ekim. Sie lebt mit ihrem Sohn, Schwiegertochter und Enkelin in einer aus Holz und Plastikplanen errichteten Hütte.

"Ich hasse die Nacht", flüstert Necla Ekim. Sie lebt mit ihrem Sohn, Schwiegertochter und Enkelin in einer aus Holz und Plastikplanen errichteten Hütte. Zehntausende Menschen sind seit dem Erdbeben in der letzten Woche obdachlos. Viele schlafen in Zelten und Notunterkünften. Tagsüber sind sie damit beschäftigt zu überleben: Sie besorgen Wasser und Nahrungsmittel, versuchen, sich selbst und ihre Umgebung sauber zu halten und kochen einfache Mahlzeiten auf Gasöfen. In der Nacht aber kehren die Schrecken des verheerenden Erdbebens zurück.

"Manchmal kann ich mir vorstellen, wieder ein normales Leben zu führen", sagt Ekims 25-jähriger Sohn Serkan. "Dann denke ich, wir könnten eine neue Wohnung und Arbeit finden. Daran denke ich tagsüber, aber nachts scheint das alles unmöglich." Von der Stelle, wo die Ekims und einige Nachbarn Zelte und Hütten aufgebaut haben, können sie ihr altes Zuhause sehen. Obwohl das Gebäude noch steht, ist es für sie unerreichbar. "Es könnte auch auf dem Mond stehen", sagt Serkan. Die Familie ist so wie viele andere überzeugt, dass es zu gefährlich ist, das Haus zu betreten. Sie sind noch nicht einmal hineingegangen, um Wertsachen oder Kleidung zu holen. Wie viele Überlebende können sie nicht aufhören, über ihre knappe Rettung zu sprechen. Oft sitzt die Familie bis weit nach Mitternacht vor ihrer Unterkunft, um den Schlaf hinauszuzögern. Einige Gebäude in ihrer Nachbarschaft stürzten ein. "Wir saßen im Dreck und haben geweint", erinnert sich die Schwiegertochter.

Eine Woche nach der Katastrophe versucht die Familie, wenigstens einen Teil ihres alten Lebens aufrechtzuerhalten, wie die traditionelle türkische Gastfreundschaft. Mit Einbruch der Dunkelheit breiten sie eine Zeitung als Tischdecke aus und bestehen darauf, ihre Mahlzeit, Eier und Tomaten, zu teilen. Auf der Straße rennt eine Gruppe junger Männer bewaffnet mit Holzstöcken vorbei. Einer von ihnen ruft, sie verfolgten einen Dieb, der verlassene Wohnungen plündere. "Noch etwas, vor dem wir uns fürchten", sagt Necla. Kurz vor Mitternacht kommt noch einmal Bewegung in das Lager, als zwei Lastwagen Trinkwasser bringen. Serkan springt auf. "Allerdings wissen wir nicht, wie lange sie die noch verteilen", sagt er. Von einem Regenguss in ihre Hütte getrieben, legt sich die Familie zum Schlafen nieder und verschließt die Plane, die als Tür dient, mit einem Ziegelstein. Ihr Schlaf wird immer wieder gestört von dem Wasser, das durch das Plastikdach ins Innere eindringt, und von dem Husten des 18 Monate alten Babys Sedanur.

Ihre Mutter erzählt, ein Arzt habe ihnen vor zwei Tagen Medizin gegeben, die auch schon zu wirken beginne. Es gebe aber so viele Schwerverletzte, dass die Ärzte nie Zeit hätten. Bei Tagesanbruch ruft der Muezzin von der nahe liegenden Moschee zum Gebet. "Ich weiß nicht, was wir heute tun werden", sagt Necla und wischt das Regenwasser von den Plastikstühlen. "Aber jeden Morgen danke ich Gott, dass wir eine weitere Nacht überstanden haben."

Laura King

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