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Interview: Antimafia-Staatsanwalt: „Ist es toll, für ein Paar Schuhe zu sterben?“

Er ist mit der Camorra groß geworden – und hat sich entschieden, sie zu bekämpfen. Raffaele Cantone kann erklären, wie Mafiosi ticken und wie sie sich organisieren

Raffaele Cantone, 47, war viele Jahre lang leitender Staatsanwalt der Antimafia-Behörde in Neapel und damit an allen wichtigen Prozessen gegen die Camorra-Clans beteiligt. Inzwischen arbeitet er in einem römischen Gericht. Im Verlag Kunstmann erschien von ihm das Buch „Allein für die Gerechtigkeit“.

Signor Cantone, nach nicht einmal acht Jahren als Antimafia-Staatsanwalt haben Sie das Handtuch geworfen und sich versetzen lassen. Hat die Camorra Sie kleingekriegt?

Nein, ich hatte persönliche Gründe. Ich war der bestbewachte Staatsanwalt von Neapel. Als ich für die Casalesi, einen der mächtigsten Clans, zuständig war, durfte ich mich nur noch mit zwei gepanzerten Autos und fünf Leibwächtern bewegen. Ich wollte wieder ein Leben ohne Eskorte und Polizeiautos führen.

Was war das Schlimmste an diesem Alltag?

Der Verlust der Privatheit, worunter ja nicht nur ich litt, sondern meine ganze Familie. Egal, ob ich Bananen kaufte oder meinen Sohn Enrico zur Schule brachte – der ganze Tross war immer dabei. Irgendwann habe ich mich gefragt, ob das für die Psyche meiner Kinder so gut ist, ständig einem Gefühl der Bedrohung ausgesetzt zu sein.

Ihre Nachbarn waren auch nicht eben begeistert.

Nun, die Polizisten, die mich bewachten, haben nebenbei nachgesehen, ob die Leute mit Helm Vespa fahren oder ob die Geschäfte Lizenzen haben. Das gab einen Riesenaufruhr, aber nicht etwa aus Unrechtsbewusstsein, sondern weil die Leute wegen diesem Cantone plötzlich kontrolliert wurden. Das ist die Mentalität des Südens – der Staat wird immer als feindlich wahrgenommen. Die Nachbarn schnitten und beschimpften mich. Da frage ich mich, ob sie einem Boss der Camorra das Leben genauso schwer gemacht hätten.

Macht Sie das nicht wütend, dass sich ein Gesetzesvertreter nicht frei bewegen kann, während die Mafialeute unbehelligt bleiben?

Es wäre ungerecht, sich darüber zu beschweren, der Staat trieb schließlich einen ungeheuren Aufwand für meinen Schutz. Da vermeide ich es lieber, überhaupt eine Eskorte zu brauchen. Zumal in der Mafia-Bekämpfung die Fluktuation sehr wichtig ist. Keiner sollte so lange dabei sein, dass er sich persönliche Feinde machen kann.

Sie haben die Camorra in Neapel bekämpft. Können Sie uns kurz die Unterschiede zwischen den einzelnen Organisationen erklären?

Die sizilianische Cosa Nostra ist hierarchisch wie eine Pyramide, mit dem Capo ganz oben. Die ’Ndrangheta in Kalabrien besteht aus vielen einzelnen Clans, in denen die Familie die Struktur vorgibt. Die Camorra ist sehr komplex. In Neapel besteht sie aus Mikrobanden, die mit Drogen, Diebstählen und Raub zu tun haben. Die sind sehr autonom, mit vielen Revierkämpfen, daher geschehen in Neapel auch so viele Morde. In der Provinz finden wir hingegen Clans, die durch Blutsbande bestimmt sind, wie die Casalesi, Fabbrocino, Russo.

Was ist am schwersten zu bekämpfen?

Undurchlässige Strukturen. Bei der Camorra in der Provinz etwa wissen die oberen Gruppen nie, was die unteren machen, und umgekehrt. Wenn da einer mal gesteht, heißt das noch lange nicht, dass man das Ganze zu fassen bekommt. Diese pulverisierte Struktur macht die Camorra zudem sehr flexibel und anpassungsfähig.

Die organisierte Kriminalität beschränkt sich nicht auf illegale Geschäfte wie Drogen oder Prostitution, sondern dringt in alle Bereiche der Gesellschaft vor. Stichwort Müllentsorgung, ein Spezialgebiet der Camorra. Wie funktioniert das?

Für Unternehmen in Europa ist es sehr teuer, chemische, giftige oder gefährliche Rückstände fachgerecht zu entsorgen. Mittelsmänner der Camorra gehen daher im Namen von Firmen zu den Unternehmen und schlagen ihnen vor, etwas, was einen Euro kosten würde, zum Beispiel für 50 Cent zu machen. Die Unternehmen wissen zwar genau, dass es unmöglich ist, Abfälle für diesen Preis gesetzeskonform zu entsorgen, aber auf dem Papier ist es legal.

Kommt so etwas nur in Italien vor?

Inzwischen haben viele dieses Feld entdeckt, in ganz Europa. Das ist ein Riesengeschäft für alle: Die Unternehmen sparen, die Mafia scheffelt mit wenig Aufwand viel Geld. Alles, was sie braucht, sind Orte, an denen sie den Müll auskippen kann, auf dem Land, in Gruben, im Meer. Viel geht nach Afrika, unlängst wurden zwei italienische Journalisten ermordet, vermutlich weil sie herausgefunden hatten, dass Atommüll illegal nach Somalia gebracht worden war.

Die Camorra scheint in jeder Hinsicht modern zu sein. Es gibt zum Beispiel viele einflussreiche Frauen.

Die Rollen sind nicht so traditionell, da würde keiner zu einer Frau sagen: So, jetzt reden wir übers Geschäft, geh in die Küche und mach Kaffee. Aus der Camorra kam die erste Frau, die für ihren Clan einen Mord beging, Pupetta Maresca, 1955 war das. Sie holte eine Pistole aus ihrer Handtasche und erschoss einen verfeindeten Camorrista, aus Rache, weil der ihren Mann getötet hatte. Sie wurde in Italien zu einer Heldin. Ich hatte einmal mit einem wichtigen Boss zu tun, der überlegte, ein pentito zu werden, also als Kronzeuge gegen die Mafia auszusagen. Ich habe ein Gespräch mit seiner Frau abhören lassen. Er sagte ihr, dass man viel gegen ihn in der Hand habe, dass ihm lebenslang drohe. Die Frau sagte nur: „Wenn du ein infame wirst, ein Verräter, vergiss, dass du Frau und Kinder hast.“

Hat er auf seine Frau gehört?

Er ließ mir wenig später durch seinen Anwalt ausrichten, er habe kein Interesse mehr. Gerade die Frauen der Bosse haben ein sehr gutes Leben, sie wollen die Familie nicht gefährden und ihre privilegierte Position behalten. Da verzichten sie lieber auf ihren Mann, wenn der im Knast sitzt.

Machen die Frauen auch Geschäfte?

Ja, und es gibt Frauen, die Morde veranlassen. Im La-Torre-Clan gab es eine, die einen Feind des Clans weghaben wollte. Sie ging zu einem Bekannten und behauptete, dass seine Frau ein Verhältnis mit besagtem Rivalen habe, was nicht stimmte. Der Ehemann ließ den anderen daraufhin umbringen.

Sie haben als Staatsanwalt viele Camorristi verhört. Wie bringt man einen Boss zum Reden?

Das Wichtigste ist , Vertrauen herzustellen. Ein pentito ist jemand, der eine Entscheidung trifft, und er muss das Gefühl haben, dass es die richtige ist. Manchmal muss man ihnen vermitteln, dass sie gebraucht werden. Manchmal muss man sie regelrecht abwerben, wie eine Firma einen Angestellten der Konkurrenz. Einmal haben wir uns an die Freundin eines Camorrista herangemacht. Sie hatte mit dem Clan nichts am Hut und brachte ihren Geliebten dazu, auszusagen. Das Verhältnis zu den Kronzeugen ist eine Gratwanderung. Ich war schon bei Verhören dabei, da haben pentiti den Staatsanwalt umarmt und geküsst. Sicher nur aus Überschwang und Dankbarkeit dem Mann gegenüber, dem sie gerade ihr Leben erzählt haben, aber da wird man als Beamter schnell befangen.

Der Richter Giovanni Falcone, der 1992 von der Cosa Nostra ermordet wurde, soll das besonders gut beherrscht haben.

Falcone sagte: Wir müssen die Werte verstehen, den Mann hinter dem Mafioso, das Warum. Ein Verhör muss formell sein, aber auch voll Respekt. Nicht für die Mafia, sondern für den Mann, der vor einem sitzt. Diese Atmosphäre konnte Falcone herstellen. Ein sizilianischer Boss wie Don Masino, einer der wichtigsten Kronzeugen der 80er und 90er, hat sich nicht dem Staat anvertraut, der hat sich Falcone anvertraut. Ich glaube auch, dass territoriale Sensibilität wichtig ist. Dass man weiß, welche Codes in einer Gegend herrschen.

Sie waren als Staatsanwalt für die Gegend zuständig, in der Sie aufwuchsen. Wie ist das, wenn Leute, die man aus der Kindheit kennt, Mafiosi werden?

Dort, wo ich aufgewachsen bin, war die Camorra allgegenwärtig wie die Luft zum Atmen. Einer meiner Schulkameraden wurde in einem Kampf der Camorra ermordet, man hat ihm sein Gesicht zerschossen. In der Schule hatte er einmal sehr geweint, weil er seine Aufgaben nicht gemacht hatte und dafür ausgeschimpft wurde. Das ist eine seelische Strafe: Dass ich in dem Camorrista das Kind sehe, mit dem ich einen Weg gemeinsam ging. Und dann, an einer Gabelung, bog er hier ab und ich da. Die Trauer darüber ist aber auch ein wichtiges Motiv für mich. Dieses Gefühl für die eigene Gegend, die Liebe zur Heimat, die etwas anderes sein soll als Camorra, Müll und Mord.

Wurden Sie deswegen Antimafia-Staatsanwalt?

Ich wollte Anwalt werden. Doch bei einem Praktikum in einer Anwaltskanzlei merkte ich schnell, dass mein Ideal vom Anwaltsberuf mit der Wirklichkeit Neapels schwer vereinbar war. Eines Tages stand ich mit einem Kollegen vor dessen Haus, als plötzlich ein Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf uns zuraste. Kurz bevor wir überrollt wurden, bremste es ab, und der Fahrer schrie: „Das sind die Falschen!“ Der Gedanke, als Anwalt solche Typen verteidigen zu müssen, schreckte mich ab, 1999 kam ich dann zur Anti-Mafia.

Seit in einer Duisburger Pizzeria 2007 sechs Leute erschossen wurden, ist klar, dass man überall mit der Mafia rechnen muss. Können Sie durch eine Stadt spazieren, ohne an jeder Ecke die Mafia zu sehen?

Mir gefällt die Idee nicht, die Mafia sei überall. Das hieße im Umkehrschluss, dass sie nirgendwo ist. Das ist es ja, was Politiker den Leuten gerne eingeredet haben, La Mafia non esiste, die Mafia gibt es nicht. Für mich ist es so: Wenn es Beweise gibt, ist jemand ein Mafioso, wenn nicht, dann nicht, basta.

Sie schrieben „Allein für die Gerechtigkeit“ , es gibt das Antimafia-Buch eines Polizisten und den Weltbestseller „Gomorrha“ von Roberto Saviano ...

Das ist in Italien gerade eine gewisse Mode. Der Grund dafür ist sicher der internationale Erfolg von Roberto Saviano. Ich glaube aber, dass die internationale Presse das Phänomen ein bisschen überbewertet. In Wahrheit interessiert sich eigentlich niemand für die Camorra.

Saviano, der zahlreiche Morddrohungen von den Casalesi erhielt, sagt inzwischen, er bereue es, dieses Buch geschrieben zu haben. Geht es Ihnen ähnlich?

Nein. Mein bescheidener Erfolg ist ja nichts gegen Robertos internationale Bekanntheit. Kaum eine Fluglinie will ihn mehr mitnehmen, Hotels lassen ihre Räume auf Bomben durchsuchen, wenn er kommt. Für ihn war das ein Sturm, der ihn fast weggeblasen hat.

Sie beide sind gut befreundet. Wie ist das, wenn Sie sich treffen wollen, zwei Leute unter Polizeischutz?

Die absurdeste Situation war in einer kleinen Trattoria. Roberto und ich saßen an einem Tisch, den Rest der Tische belegten unsere zehn Sicherheitsleute. Leider hat sich meine Situation nicht geändert, seit ich mich ans Kassationsgericht in Rom versetzen ließ. Aus dem Kreis des Ex-Bosses Augusto La Torre ist durchgesickert, dass man sich um mich und meine Familie kümmern werde.

Fürchten Sie die Rache der Camorra?

Höchstens eine persönliche Rache. Die Organisationen selbst sind intelligent – warum sollten sie jemanden töten, der ihnen nicht mehr gefährlich werden kann? Ich habe jetzt ein anderes Risiko, ich exponiere mich durch Lesungen und meine Besuche an den Schulen. Andererseits gewährt mir dieses Minimum an Sichtbarkeit auch gewissen Schutz.

Es gibt unzählige Mafia-Filme, doch Gesetzeshüter wie Sie werden eher selten zu Filmhelden. Hat die Mafia die interessantere Ästhetik als die Legalität?

Auf jeden Fall. In Italien gab es einen sehr erfolgreichen Spielfilm über Totò Riina, den Capo der sizilianischen Mafia, genannt „die Bestie“. Vor allem die Jugendlichen sind bewegt von seiner Geschichte: der Mann, der vom Land kommt, kaum richtig Italienisch kann – aber an die Spitze aufsteigt und alle beseitigt, die ihm im Weg stehen. Doch der kleine Mafiasoldat hat genau zwei Möglichkeiten: zu schuften oder zu sterben. Kaum einer von denen wird ein Riina. Denn das soziale System der Camorra ist unserem Gesellschaftssystem ähnlich: Die von ganz unten kommen selten nach oben.

Viele kleine Mafiosi genießen ihren Status. Sie werden von allen gegrüßt, bekommen Drinks umsonst …

Und was ist der Preis dafür? Ich war einmal an einem Tatort, da ist ein Junge von seiner Vespa heruntergeschossen worden, er war 18 Jahre alt. Als ich die Leiche sah, fielen mir seine Schuhe auf. Genau dieselben hatte ich in einem Schaufenster gesehen, ich wollte sie kaufen, tat es aber nicht, weil sie 250 Euro kosteten. Ich frage Sie: Ist es wirklich toll, für ein Paar Schuhe zu sterben?

Ein Jugendlicher aus der Peripherie will einfach einen iPod und denkt nicht an die Konsequenzen.

Was für eine Perspektive hat ein 20-Jähriger, wenn er im Gefängnis sitzt? Seine Schulkameraden schließen die Universität ab, er hat gerade mal die Universität des Verbrechens besucht. Die pentiti klagen mir oft ihr Leid. Dass sie niemand mehr sind, keiner Respekt vor ihnen hat. Da antworte ich immer: Ich konnte kein einziges Mal mit meiner Familie ausgehen oder in den Urlaub fahren, ohne dass ich nicht zu einem Einsatz gerufen wurde. Ich weiß, welchen Preis ich dafür zahlen muss: Er ist ein Minimum an Sozialleben. Wie dumm ist es dann, für ein bisschen Respekt mit dem Leben zu bezahlen?

Wenn Sie ausgehen: Gehen Sie da nur in Restaurants, die kein Schutzgeld an die Mafia bezahlen?

Wenn ich weiß, dass jemand pizzo, also Schutzgeld, zahlt, gehe ich nicht hin und sage das auch meinen Kindern. Der große Kampf findet im Punktuellen statt. Die Mafia muss der Gesellschaft entfremdet werden. Es macht mich wütend, wie positiv besetzt die Mafia noch immer ist. Unlängst im Restaurant nach der Kommunion einer Nichte: An einem Nebentisch saß ein Typ, den ich aus meiner Zeit als Anwalt kannte, er war der Begleiter eines Bosses. Er durfte nicht mal mit hoch in die Kanzlei kommen, er war ja nur der Lakai. Doch im Restaurant haben sich die Kellner vor ihm überschlagen. Dabei sollte so jemand eine Schande sein.

Ist es eigentlich möglich, kein Schutzgeld zu zahlen?

Wenn ein Unternehmer sich weigert, hat die Mafia wenig Möglichkeiten. Von Kronzeugen wissen wir, dass die Clans keinen pizzo von Leuten fordern, die mit einer Anzeige drohen. Und die stärksten und intelligentesten Clans wie die Casalesi haben die Strategie, die kleinen Kaufleute nicht zu belasten, weil sie von denen andere Dinge brauchen, omertà zum Beispiel, das Stillschweigen. Trotzdem passiert es viel zu selten, dass sich jemand weigert, zu zahlen. Ein Händler hatte einmal viel Mut. Er hat nicht nur Anzeige gegen die Schutzgelderpresser erstattet, er hat auch beim Prozess ausgesagt. Er weinte, fürchtete um sein Leben. Auf meine Frage, warum er das mache, sagte er: Ich weiß es auch nicht. Ich glaube, es hat mit Würde zu tun.

Sie fordern eine stärkere Zivilgesellschaft. Nicht gegen die Einbahnstraße zu fahren, keinen Müll auf die Straße zu werfen. Soll das helfen gegen die Mafia?

Das sind keine Banalitäten. Ein Grund, warum die Camorra wächst wie ein Geschwür, ist die Missachtung von Regeln. Der Junge, der Camorrista wird, sieht von Kindesbeinen an Leute, denen jede Autorität egal ist. Ich glaube an Erfolg durch Erziehung.

Interview: Verena Mayer

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