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Interview: "Aufklärung überfordert Eltern und Lehrer"

In einem Ferienlager auf Ameland sollen mehrere Jugendliche andere Kinder sexuell missbraucht haben. Wie kommt es, dass ein Jugendlicher sexuell gewalttätig wird?

Zuerst einmal stelle ich mir die Frage, wie so etwas geschehen konnte, also warum es eine Gelegenheit dazu gab. Da muss eine Aufsichtsperson geschlafen haben. Dass es bei einem Pubertierenden hohe sexuelle Energien gibt, hängt mit dem Gehirn zusammen. In der Pubertät schießt das Testosteron in das Gehirn rein, dann hat dieser Mensch nur Sex im Kopf. Männer haben ungefähr zwanzigmal mehr vom Sexualhormon Testosteron als Frauen. Testosteron bedeutet aber nicht nur eine Fixierung auf Sex, sondern auch Gewaltbereitschaft und Aggression. Doch dazu kommt noch, dass die Hemmungen, die es meiner Meinung nach früher gab, nicht mehr existieren.

Warum ist das so?

Vermutlich denken die Jugendlichen, dass sie sehr aufgeklärt sind, weil sie durch den Sensationsjournalismus etwa über brutale Morde und Mobbing informiert sind. Doch nur ein Bild von einer Prostituierten zu sehen, heißt nicht, auch die Problematik zu verstehen. Gleichzeitig ist die Erziehung so locker geworden, dass bestimmte Werte wie Moral, Respekt und das Akzeptieren von Grenzen nicht mehr vermittelt werden.

Es wird viel über die Generation Porno gesprochen, weil Sex allgegenwärtig scheint. Sehen Sie diese ständige Präsenz als zusätzlichen Auslöser?

Ich glaube, dass diese nackten Körper, etwa in der Werbung, überhaupt keinen Einfluss darauf haben. Hier geht es nur um Sex-Anreize wie einen Busen oder einen muskulösen Bauch. Das löst keine sexuelle Gewalt aus. Im deutschen Fernsehen wird nichts gezeigt, was ein solches Verbrechen wie in Ameland geschehen auslösen könnte.

Wie sieht es mit Pornografie im Internet aus, die jedem zugänglich ist, der auf einem Button bestätigt, 18 Jahre alt zu sein?

Das ist ein großes Problem. Wenn die Eltern mit ihren Kindern besprechen, was dabei Wirklichkeit ist, dann können die Jugendlichen das unterscheiden. Dann lachen die darüber und sagen, dass natürlich Sex nicht so sei wie im Porno. Aber das hat mit Bildung zu tun, ansonsten denken Jugendliche, dass Sex genau so sei. Gerade wenn sie in den Pornos mit ihren Eltern sehen, was vorkommt, und diese nicht mit ihnen darüber reden.

Der Leiter der Ferienanlage, Dieter Neuhaus, betont, dass es sich bei den vermeintlichen Tätern um Jungen handle, die nicht aus „schlechten Familien“ kämen.

Es kommt schon oft vor, dass gerade Kinder aus sozial schwachen Familien nicht aufgefangen werden, die sehen viel Fernsehen und viele Videos. Oft kümmern sich die Eltern nicht um die Kinder. Aber es gibt auch Jugendliche, die aus reichen Familien kommen, in denen die Eltern keine Zeit für ihre Kinder haben. Diese Jugendlichen sind es oft gewohnt, alles zu bekommen, und wollen alles können, alles haben, den Urlaub, den Flachbildschirm. Aber gerade in der Sexualität sollte man nicht alles können und wollen. Hier müssen Jugendliche Erfahrungen sammeln und ihre Grenzen kennenlernen. Da muss man auch sagen: Das ist nicht mein Ding, das will ich nicht.

Sie nehmen die Eltern stark in die Verantwortung. Sind diese mit dem heutigen Verständnis von Sexualität überfordert?

Das glaube ich schon, das ist ein sehr großes Problem. Eltern und Lehrer sind mit der Aufklärung total überfordert. Kinder wollen meistens nicht mit ihren Eltern darüber sprechen. Dabei ist das wichtig, damit Jugendliche mit Sex umgehen und auch Nein sagen können. In den Niederlanden fängt die Aufklärung im Kindergarten an. Sexualität ist zwar ein angeborener Trieb, doch der Umgang damit muss erlernt werden. Eltern müssen nicht ihr Verständnis von Sex ändern, sondern sollten anfangen, mit ihren Kindern darüber zu reden. Das Tabu ist das Problem. In einer Studie kam raus, dass die Kinder heute so wenig aufgeklärt sind wie noch nie, aber denken, so viel zu wissen wie noch nie. Die haben das Gefühl, durch die Medien alles zu wissen.

Welche Probleme ergeben sich noch bei der Aufklärung der eigenen Kinder?

Eltern vergleichen sich ja selber mit ihren Kindern. Die wissen dann oft nicht, dass der durchschnittliche Teenager heutzutage mit zehn Jahren in die Pubertät kommt. Bei den Eltern war das viel später. Das hat mit der Ernährung, den Hormonen und der Entwicklung des Gehirns zu tun. Die Kinder sind dann in ihrer moralischen und sozialen Entwicklung noch nicht so weit wie ihre Hormone.

Glauben Sie, dass die vielen Diskussionen um sexuellen Missbrauch in der Kirche einen Einfluss haben?

Nein, ich sehe hier keinen Zusammenhang. Wenn Jugendliche das überhaupt mitkriegen, dann beziehen sie das nicht auf sich, weil die Kirche und Priester zu weit von ihrem Umfeld weg sind. Sie wundern sich eher über die Homosexualität oder über die Pädophilie.

Wenn in Medien sexuelle Gewalt beschrieben wird, hat das also keinen Einfluss?

Ich gehe nicht davon aus, dass die jüngsten Ereignisse in der Kirche solche Auswirkungen haben. Aber wenn ein Pubertierender von einem „Gangbang“ liest, dann kann schon so etwas passieren. Wenn ein männlicher Teenager, dessen Gehirn voll mit Hormonen ist, nur einen kleinen Impuls erfährt, dann bekommt er eine Erektion. Dann kann es schon sein, dass der Junge denkt, dass er so etwas auch ausprobieren möchte. Wichtig ist dann, dass der Jugendliche ein so ausgeprägtes moralisches Verhalten hat, dass er weiß, dass man so etwas nicht macht.

Das Gespräch führte Katharina Kühn.

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