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Interview: Wir Frauen in Afghanistan

Samira Hamidi kämpft in Kabul für Gleichberechtigung – und freut sich über kleine Erfolge.

Samira Hamidi ist in Kabul geboren und aufgewachsen. 1992 floh sie mit ihren Eltern und ihren vier Brüdern nach Pakistan. 2002 kehrte die Familie nach Kabul zurück, dort vertritt Samira Hamidi heute als Länderdirektorin des „Afghan Women’s Network“ mehr als 90 afghanische Organisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen.

Frau Hamidi, ist es heute in Kabul ein Problem, dass Sie nicht verheiratet sind?

Es ist schwierig, und wäre mein Vater konservativer, ginge das wohl nicht. Ich bin 32, meine Mutter macht sich inzwischen furchtbar Sorgen, wer mich wohl heiraten könnte, auch weil die Gesellschaft hier ziemlichen Druck erzeugt. Aber Heiraten ist nicht meine Priorität. Irgendwann werde ich das sicher tun. Doch mein künftiger Mann muss auch mit dem einverstanden sein, was ich mache. Das ist nicht immer einfach.

Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen ist offenbar nach wie vor sehr ungleich.
Sobald eine Frau in Kabul ihr Haus verlässt, wird selbst ein 12-Jähriger ankommen und sie blöd anquatschen. Diese jungen Männer machen nach, was ihnen vorgelebt wird. Meine Geschwister und ich, wir sind alle sehr gut erzogen und unabhängig, und trotzdem gab es Zeiten, in denen einer meiner Brüder versucht hat, mich am Arbeiten zu hindern. Ich bin mir sicher, das lag an den anderen Männern, mit denen er zusammen war. Aber es reicht nicht nur, Mädchen zur Schule zu schicken, man muss auch den männlichen Schülern sagen: Hört auf, Frauen so zu behandeln, und lasst sie leben, wie ihr selbst leben wollt. Das passiert bisher nicht.

Sie sind eine Ausnahme?
Ich habe wahnsinniges Glück, dass ich meinen Vater habe. Ginge es nach meinen Brüdern, wäre ich längst verheiratet, hätte mindestens fünf Kinder.

Viele Deutsche haben den Eindruck, dass sich seit dem Sturz der Taliban 2001 in dem Land nichts verbessert hat.
Wir haben noch einen weiten Weg zu gehen, aber wir sind auch schon einen weiten Weg gekommen. Ich selbst bin heute eine völlig andere Person als 2002. Mit viel mehr Erfahrung, viel mehr Selbstbewusstsein: wegen meiner eigenen harten Arbeit und wegen der ganzen Möglichkeiten, die sich um mich herum geboten haben. Die Lage für Frauen hat sich seit 2001 vor allem für diejenigen sehr geändert, die diese Möglichkeiten zu nutzen wussten und nutzen konnten. Viele Afghaninnen studieren heute im Ausland, auch in Deutschland – unter den Taliban durften sie nicht einmal ihr Haus verlassen! Geschweige denn, zur Schule gehen. Heute können Frauen Ärzte aufsuchen, zum ersten Mal gibt es ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. 2002 ging es darum, überhaupt um Frauenrechte zu kämpfen. Heute wollen wir Frauen an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, weil wir diesem Land Frieden bringen wollen.

Weshalb sind Sie 2002 überhaupt nach Afghanistan zurück? In Islamabad hatten sie gerade Ihren Bachelor in Business Administration gemacht und angefangen zu arbeiten.
Das hat mein Vater entschieden. Er fand, die Lage hätte sich genügend verbessert. Die Taliban waren weg, es wurde nicht mehr gekämpft, Frauen konnten wieder frei das Haus verlassen. Und Afghanistan ist unsere Heimat, er nahm an, wir würden dort besser Arbeit finden.

Hatte er recht?
Auf der Fahrt von Islamabad nach Kabul hockte ich auf der Rückbank und dachte nur, oh Gott, wie soll das bloß werden? Ich war mir sicher, ich würde alles vergessen, mein Englisch, meine Computerkenntnisse, und ich würde in diesem Nachkriegsland keine Arbeit finden und versauern. Aber für Leute wie uns, die etwas gelernt hatten, gab es damals unglaublich viele Möglichkeiten. Ich bekam sehr schnell einen Job beim United Nations Development Programme, und von da an ging es immer weiter. Ich sage meinem Vater oft: Nach Afghanistan zurückzukehren, war eine der besten Entscheidungen, die du je getroffen hast.

Schwierigkeiten? Ja, die gibt es.

Warum?
Ich fühle mich hier zu Hause. Ich bin keine Fremde, in meinem Land kann ich tun, was ich möchte. Dieses Gefühl habe ich in Pakistan ganz stark vermisst. Auch meine Eltern verhalten sich anders. Beide sind unabhängig, meine Mutter hat immer gearbeitet und arbeitet jetzt wieder bei der Nationalbank. In Pakistan waren beide auf einmal sehr konservativ. Wir waren Flüchtlinge, und alles war ein Problem: wie ich mich anziehe, wen ich treffe, wohin ich gehe. Seit wir in Afghanistan sind, hat mein Vater kein einziges Mal mehr gesagt: Dein Kopftuch sitzt nicht richtig. In Pakistan waren wir außerdem auf das Geld angewiesen, das uns ein Onkel aus Australien schickte.

In Afghanistan soll alles gut sein?
Selbstverständlich haben wir Schwierigkeiten – allein schon, weil Kabul so teuer ist. Das alte Haus meiner Familie wurde zerstört, jetzt teile ich mir mit meinen Eltern eine Wohnung, zahle trotzdem 500 Dollar Miete im Monat. Und die Gewalt ist schlimm. Manchmal frage ich mich morgens, wenn ich aus dem Haus gehe, ob ich abends heimkommen werde. Höre ich irgendwo von einem Anschlag, einer Rakete, einem Selbstmordattentat, simse ich sofort an meine Brüder, meine Eltern und Schwägerinnen und frage jeden, ob er von den anderen gehört hat. Das ist mühsam.

Wie sind Sie denn dazu gekommen, sich für Frauenrechte zu engagieren?
Das hat sich so entwickelt. Ich habe bald als Vizedirektorin für Personalentwicklung in einem der Kabuler Ministerien angefangen. Weil der Direktorenposten unbesetzt war, habe ich die Abteilung faktisch geleitet. Im Haus gab es als Chefs 24 ältere Herren – und mich. Diese Männer waren völlig konsterniert, als ich an meinem ersten Arbeitstag vorgestellt wurde. Ich musste kämpfen und klarmachen: Ich bin hier, um zu arbeiten, und ich kann das.

Hat es geklappt?
Ich glaube schon, dass sich wegen mir immer mehr Frauen im Ministerium auf Stellen beworben haben. Ich habe dem Minister auch ins Gesicht gesagt, dass wir mehr Frauen auf Führungspositionen brauchen. Das fanden viele Männer gar nicht gut. Ich bin dann ins Innenministerium gewechselt, um mich speziell um Gleichstellungsfragen bei der Polizei zu kümmern – einer völlig von Männern dominierten Organisation. Anfangs haben sie dort überhaupt nicht verstanden, was ich vorhatte. Aber mit der Zeit wurden die Generäle und Obristen recht offen. Es war für sie auch deutlich entspannter, mit einer Afghanin über Diskriminierung und Gleichstellungsfragen zu sprechen. Sonst hätten sie nur gedacht, ihnen solle eine westliche Ideologie übergestülpt werden.

Von 100 000 Polizisten sind etwa 1200 Frauen. Das ist nicht viel.
Als ich meinen Job begann, waren es nur 600. Wir mussten viel Werbung machen, im Fernsehen, in Schulen, in den Provinzen. Leider ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei in den vergangenen Jahren nicht gerade gewachsen. Ich habe viele Drohungen bekommen, weil die Leute nicht verstanden, warum ich ihre Töchter zur Polizei bringen wollte.

Haben Sie deshalb im Ministerium aufgehört?
Ich war damals noch von den UN angestellt. So eine Organisation ist sehr bürokratisch, und man kann nicht immer frei über die Dinge sprechen, die einem wichtig erscheinen. Das wollte ich aber. Während meiner Arbeit im Innenministerium habe ich dann glücklicherweise das „Afghanistan Women’s Network“ kennengelernt ...

... und sind dort Länderdirektorin geworden.
Vor allem geht es darum, den Interessen und Belangen unserer Mitglieder auf höchster Ebene Gehör zu verschaffen, also im Präsidentenpalast, in den Ministerien und bei der internationalen Gemeinschaft. Manchmal bieten wir auch Weiterbildung an. Letztes Jahr haben wir mehr als 130 Frauen das Autofahren beigebracht. In Kabul haben ganz viele Familien ein Auto, doch nur ganz wenige Frauen können fahren.

Wer bezahlt Sie für Ihre Arbeit?
Uns unterstützen Botschaften, die EU, einige unserer Geber sitzen nicht in Afghanistan. Ohne sie könnten wir im Moment nicht fortbestehen, und genau das treibt uns auch um mit Blick auf das Abzugsdatum 2014.

Sind Frauenrechte Verhandlungsmasse?

Was 2014 betrifft, sieht es manchmal aus, als ob die Frauenrechte in Afghanistan Verhandlungsmasse mit den Islamisten wären. So gab der höchste Rat der Rechtsgelehrten, der Rat der Ulema, Richtlinien heraus, in denen Frauen generell Männern unterstellt werden und ihnen untersagt wird, ohne männliche Begleitung zu reisen. Präsident Karsai widersprach nicht. Wird so die Rückkehr der Taliban vorbereitet?
Der Rat der Ulema sagt solche Dinge leider seit zehn Jahren. Wir ignorieren solche Statements, damit der Rat für diese Ideen nicht noch mehr Aufmerksamkeit bekommt. Der Präsident wurde darauf angesprochen und sagte, das sei die Meinung des Rates der Ulema. Er hat gesagt, dass wir alle Muslime sind und unserer Religion folgen, aber nicht, dass der Rat recht hat. Darüber ist etwas verzerrt berichtet worden.

Das klingt aber zahm für eine Organisation, die sich speziell für Frauenrechte einsetzt.
Wir wollten das lieber auf diplomatische Weise angehen als laut Alarm zu schlagen. Der Präsidentenpalast ist uns gegenüber ziemlich offen und empfängt uns regelmäßig zu Gesprächen, das wollten wir nicht gefährden. Bei so einer Gelegenheit haben wir dann mit dem Präsidenten darüber gesprochen, und er hat gesagt, ihr habt recht, ich werde das am Internationalen Frauentag klarstellen – und er hat’s gemacht! Er hat gesagt, unsere Verfassung spricht Frauen wie Männern die gleichen Rechte zu. An dieser Verfassung, die wir alle akzeptieren, hat auch der Rat der Ulema mitgearbeitet.

Trotzdem klingt das so, als ob der Rat der Ulema ziemlich frauenfeindlich ist.

Wir haben furchtbare Fotos von misshandelten Frauen mitgebracht und sie im Präsidentenpalast den religiösen Führern vorgelegt. Dann haben wir sie gefragt: Befiehlt uns das unsere Religion? Ist es das, was ihr predigt? Ihr seid unsere religiösen Führer, ihr müsst etwas tun! Männer schneiden Frauen die Ohren und Nasen ab, und ihr schaut nur zu!

Gewalt gegen Frauen ist in Afghanistan per Gesetz verboten. Warum wenden die Richter das Recht nicht einfach an?
Unser Rechtssystem ist in katastrophalem Zustand, die Ausbildung der Juristen schlecht, das System zutiefst korrupt. Männer haben oft wenigstens Geld, um Richter zu bestechen, Frauen haben häufig gar nichts. Viele Männer, die ihre Frauen foltern, ihnen die Nasen, die Ohren abschneiden, wissen gar nicht, dass das verboten ist. Und selbst wenn, sie bestraft ja doch niemand. Dazu kommt das System von Selbstjustiz. Die Mehrheit der Frauen in Frauenhäusern ist davor geflohen. Da hat zum Beispiel ein Mann den Bruder seines Nachbarn getötet. Die Stammesältesten entscheiden dann, dass die Schwester des Mörders jetzt der Familie des Ermordeten als Ausgleich gehört. Wie sie behandelt wird, ist ja wohl klar.

Oft wird dieses Verhalten damit erklärt, dass die afghanische Gesellschaft sehr konservativ ist.
In Kabul leben sehr konservative Familien, deren Frauen durchaus für ihre Sache sprechen, die reisen, die aktiv sind, trotz der Restriktionen, mit denen sie oft leben müssen. Für mich haben diese unmenschlichen Taten nichts mit Konservatismus, Kultur oder Mangel an Erziehung zu tun – es ist einfach Grausamkeit. Vielleicht hat der jahrzehntelange Krieg die Menschen so verrohen lassen. Wenn ich an diese Männer und an das Taliban-Regime denke, muss ich sagen, damals funktionierte wenigstens die Rechtsprechung. Dabei will ich die Taliban auf gar keinen Fall zurück, verstehen Sie mich nicht falsch.

Trotzdem gehen viele davon aus, dass mit dem Truppenrückzug 2014 auch die ausländische Unterstützung im zivilen Bereich massiv zurückgeht, und um des Friedens willen bei Frauen- und Menschenrechten Zugeständnisse an die Taliban gemacht werden.
Ich bin Optimistin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass all die Dinge, die für Frauen und bei den Frauenrechten in den vergangenen zehn Jahren erreicht worden sind, jetzt wieder verhandelt werden können. Aber ja, wir haben alle auch Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Wir wollen nicht zurück nach 1996, als die Frauen Gefangene in ihren eigenen Häusern waren.

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