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Italien: Erschüttertes Kulturerbe

Sechs Tote bei schwerem Erdbeben in Norditalien / Viele mittelalterliche Bauten stürzten ein.

Eigentlich sollte Nicola Cavicchi im Bett liegen. Ans Meer wollte der 35-Jährige an diesem Sonntag fahren, aber die Wetteraussichten waren schlecht, und der Chef rief, weil ein anderer Kollege ausgefallen war. Also machte Cavicchi Nachtschicht in der großen Fliesenfabrik von Sant’Agostino bei Ferrara. Um sechs Uhr morgens wäre er fertig gewesen. Um 4.04 Uhr allerdings bebte die Erde, die Werkhalle stürzte wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Nicola Cavicchi und ein weiterer Kollege waren sofort tot. Insgesamt vier Arbeiter, drei Italiener und ein Marokkaner, sind in der Nacht zum Sonntag auf diese Weise gestorben – bei einem Erdbeben in der Po-Ebene, das mit einer Stärke von 6,0 auf der Richter-Skala an die Katastrophe von L’Aquila (6,3) im April 2009 herankam, und das laut Experten und Katastrophenschutzplänen in dieser Gegend eigentlich gar nicht stattfinden sollte. Zu den Opfern in insgesamt drei zusammengestürzten Fabriken kommen zwei Frauen, eine 37-jährige Deutsche, die in der Gegend arbeitete und offenbar vor Aufregung starb, sowie eine mehr als hundertjährige Italienerin, die in den Trümmern ihres Bauernhauses verschüttet lag. Zu den Wundern des Tages gehörte die fünfjährige Vittoria V.: Auf ihr Schlafzimmer in der Nähe von Modena stürzte das Dach eines zwar alten, aber eigentlich frisch restaurierten Turms. Vittoria kam unter zwei Dachbalken zu liegen, die sie vor weiteren herabfallenden Trümmer schützten. Dem Onkel gelang es, das Mädchen fast unverletzt herauszuziehen. Kirchen krachten zusammen, Türme mittelalterlicher Festungen stürzten ein, das Rathaus von San Felice hat eine Flanke komplett verloren. Durch das Beben wurden zahlreiche architektonische Schätze in der Region um Ferrara schwer beschädigt oder zerstört. Im Dörfchen San Felice stürzte die Kirche komplett ein, das Rathaus und weitere historische Gebäude wurden beschädigt. Das Kulturministerium sprach von „großen Schäden am Kulturerbe“. Gut 50 Personen haben Verletzungen davongetragen; Vermisste allerdings schien es nicht zu geben. Denn das war das Glück im Unglück: Wohnhäuser blieben bis auf wenige Ausnahmen verschont. Jedenfalls stürzte kaum eines ein. Allerdings: Ob sie noch bewohnbar sind, oder ob die Menschen – wie in L’Aquila – für unbestimmte Zeit in Zeltstädte ausweichen müssen, das werden erst die Untersuchungen der kommenden Tage zeigen. Topfeben ist die Gegend zwischen Modena („Aceto Balsamico“) und der Kunststadt Ferrara, wo sich das Epizentrum des Bebens befand. Saftig grüne Felder, in exakt vermessene Rechtecke aufgeteilt, eine dörfliche, ländliche Struktur insgesamt, viele kleine und mittlere Industriebauten dazwischen. Unter dieser heilen Welt ist für Geologen die Hölle los: Der Druck der Afrikanischen Platte, der die italienische Halbinsel immer weiter gegen die Alpen schiebt, und das seitliche Hereindrängen der kleinen, schräg stehenden Adriatischen Platte haben in konfliktreicher Zusammenarbeit seit einem Jahr schon vier andere Erdbeben hervorgerufen. Alle in einer Stärke zwischen 4,2 und 5,4. Damit waren sie gut wahrnehmbar – im Januar wurde sogar die Mailänder Börse kurzfristig evakuiert –, und sie gehörten zur Spitzengruppe in den gut 55000 Erdstößen, die Italien seit dem Beben von L’Aquila schon wieder heimgesucht haben. Offiziell gilt die Po-Ebene als „gering gefährdet“, aber die Häufung der Beben, deren Zahl bisher im statistischen Normalbereich zu liegen schien, beginnt die Fachleute zu irritieren. Auch diesen Sonntag gab die Erde nicht nach: Sie wackelte bis in den Nachmittag hinein – und die Krisenversammlungen der einzelnen Gemeinden fanden auf den Dorfplätzen statt; sie wenigstens galten als sicher. Auch die Häftlinge im Gefängnis der Kunststadt Ferrara wurden auf die Sportplätze evakuiert. Den Regen, der im Lauf des Tages immer stärker wurde, und den für einen italienischen Mai recht ungewöhnlichen Temperatursturz nahm man in Kauf.

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