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Eine Frau steht vor zerstörten Gebäuden in Soma, Fukushima.

© dpa

Japan: Gefühle eines Unglücks

Das Ausmaß der Katastrophe ist auch am Tag nach dem Beben nicht abzuschätzen. Viele Menschen in Japan glauben, sie hätten das Schlimmste überstanden – und denken kaum an das Reaktorunglück.

Die ganze Welt schaut auf das Atomkraftwerk in Fukushima – doch die Japaner scheinen den Gedanken an eine mögliche atomare Katastrophe noch nicht an sich herankommen zu lassen. An dem Tag, an dem ihre Regierung von einem „nie dagewesenen“ Unglück spricht, haben viele eher das Gefühl, das Schlimmste überstanden zu haben. Denn während Menschen aus dem Notgebiet im Norden flüchten und sich die Situation in Fukushima weiter zuspitzt, hat sich die Lage anderswo im Land normalisiert.

Eine junge Frau aus der Präfektur Tochigi, nördlich von Tokio, berichtet per E-Mail: „Bei uns gibt es endlich wieder Strom. Auch wenn immer noch Nachbeben kommen und vieles furchtbar zerstört ist, bin ich so glücklich, dass wir leben. Während des Bebens war ich sicher, ich müsste sterben.“

Und ein 30-jähriger Student aus Fukoka, im Süden Japans, sagt am Telefon: „Ich kann es nicht glauben, wenn ich die Bilder aus Sendai verfolge. Es ist so schlimm. Aber es macht mich auch stolz, wenn ich sehe, wie gelassen und diszipliniert die Leute mit der Katastrophe umgehen.“

Für Makoto Nagata ist am Samstag sogar schon wieder Alltag eingekehrt. Der 75-Jährige, der 20 Kilometer westlich vom Tokioter Zentrum lebt, hat sich an seine überfällige Steuererklärung gesetzt. „Es lohnt doch nicht, sich aufzuregen“, sagt er. „Wir können sowieso nichts machen.“ Die Japaner seien über die Jahrzehnte und Jahrhunderte an Katastrophen gewöhnt, ständig gebe es Erdbeben und Taifune.

Nagata verfolgt im Fernsehen, wie es im Krisengebiet aussieht, auf allen Programmen wird nur noch über das Erdbeben berichtet. „Die Situation ist unglaublich traurig, wir in Tokio haben Glück gehabt.“ Nagata und seine deutsche Frau Sabine, 64, erwischte das Beben, als sie gerade spät zu Mittag aßen. „Es ging ganz leicht los“, erzählt Frau Nagata. „Aber dann wurde es plötzlich stärker – da wussten wir, das ist ein richtig schlimmes Beben. Wir haben Schutzhelme aufgesetzt und uns Überkleidung gegen Feuer angezogen.“ Das alte Holzhaus aus dem Jahr 1937, in dem die beiden wohnen, hat glücklicherweise wenig abbekommen, ein paar Kacheln im Bad sind heruntergefallen, und Ziegel vom Dach.

Auszug aus dem Katastrophengebiet. Eine Frau hat einige Habseligkeiten gepackt und macht sich durch die Trümmer der Stadt Rikuzentakata zu Fuß auf den Weg. Das Ausmaß der Katastrophe ist noch überhaupt nicht abzuschätzen.
Auszug aus dem Katastrophengebiet. Eine Frau hat einige Habseligkeiten gepackt und macht sich durch die Trümmer der Stadt Rikuzentakata zu Fuß auf den Weg. Das Ausmaß der Katastrophe ist noch überhaupt nicht abzuschätzen.

© Reuters

Am Tag danach ist Sabine Nagata durch die Nachbarschaft gezogen, um die Notfallrationen wieder aufzufüllen. Direkt an ihrem Bahnhof gab es kein Brot mehr, „aber eine Station weiter habe ich alles bekommen. Es gibt zwar Hamsterkäufe, aber der Nachschub funktioniert“, sagt sie. „Die Fischfrau hat mir allerdings erklärt, dass wegen des Tsunamis bis auf weiteres keine Schiffe rausfahren und frischen Fisch fangen können.“ Sabine Nagata, die an einer Uni Deutsch unterrichtet, nimmt die Sache nicht ganz so gelassen wie ihr japanischer Mann, aber auch sie ist nicht in Panik wegen der Geschehnisse von Fukushima. „Das ist immerhin 280 Kilometer weit weg. Es ist noch nicht so, dass die Leute alle ihre Autos auftanken, um bald fliehen zu können.“

Sorgen machen sich Sabine und Makoto Nagata aber um die Schwägerin des Mannes, die nebenan wohnt und aus Fukushima stammt. Der Kontakt zur Familie ist abgebrochen, seit dem Beben kann sie keinen mehr per Telefon erreichen.

Laut mehreren Betroffenen sind Auslandsgespräche derzeit eher möglich als Inlandsgespräche – weshalb sich mancher Japaner über den Umweg ausländischer Freunde nach dem Wohlbefinden von Bekannten und Verwandten in Japan erkundigt. Das Internet ist da verlässlicher: Die meisten Japaner sitzen in diesen Stunden vor dem Computer, um immer auf dem Laufenden zu bleiben.

„Gott sei Dank leben wir nicht in der Nähe des Atomkraftwerks“, sagt der 20-jährige Highschool-Schüler Yu Tsuno aus der Nähe von Yokohama per Skype. Er war allein im Haus, als sich das Beben ereignete, und kam mit einem Riesenschreck davon. Die Mutter, eine Lehrerin, kehrte bald mit dem Auto nach Hause zurück, aber Vater und Bruder, deren Bahnen nicht mehr fuhren, trafen erst spät ein. Der Vater musste vier, der Bruder zwei Stunden zu Fuß nach Hause laufen. „Meine Mutter hat sich große Sorgen um die beiden gemacht“, sagt Yu. „Per Handy waren sie nicht mehr zu erreichen.“ Für Yu und seine Familie bleibt die Sorge, ob sie ein weiterer Tsunami treffen könnte, ihr Haus befindet sich fünf Kilometer entfernt vom Meer.

Yus Schwester Masako, die gerade in Düsseldorf ein Praktikum macht, schaltet sich in das Skype-Gespräch ein: Sie verfolgt die Nachrichten in japanischen und in deutschen Medien und hat den Eindruck, dass die mögliche atomare Katastrophe in Deutschland stärker wahrgenommen wird als in Japan. „Vielleicht, weil in Europa die Erinnerungen an Tschernobyl frischer und lebhafter sind.“ In Japan war die Angst vor einem Atomunfall nie so groß, auch wenn das Andenken an den Schrecken von Hiroshima und Nagasaki eine wichtige Rolle spielt.

Schon das Erdbeben selbst war jedoch eine Zäsur. Die wenigsten Japaner haben mal Vergleichbares erlebt. „Beim Kobe-Beben 1995 befand ich mich im direkt betroffenen Gebiet – aber das jetzt war noch schlimmer. Es wollte gar nicht aufhören“, sagt Hitomi Nakaso, die in der Präfektur Chiba lebt. Sie habe große Angst gehabt, als Geschirr und Bücher polternd aus den Schränken fielen.

Nakaso arbeitet als Guide für Touristen. In einer Woche sollte sie eine Rundreise begleiten, ob die nun stattfindet, ist fraglich. Sie sitze den ganzen Tag „kopfschüttelnd“ vorm Fernseher, erzählt sie. Am Samstag hat sie das Haus nicht verlassen. Sie und ihr Mann haben je einen Notfallrucksack, mit Wasser, Tee, Reis, wichtigen persönlichen Unterlagen, feuchten Tüchern – „und einer kleinen tragbaren Toilette“, wie Nakaso lachend ergänzt.

Hitomi Nakaso hat Mails von deutschen Freunden bekommen, die sie aufforderten, das Land sofort zu verlassen – wegen Fukushima. Ernsthaft darüber nachgedacht hat sie nicht. Am meisten machen ihr momentan die Nachbeben zu schaffen: „30, 40 in der Nacht. Da ist an Schlafen nicht zu denken.“

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