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Panorama: Jeden Tag werden hier elf Menschen ermordet. Überlebende landen im größten Krankenhaus der Welt.

Die Ärzte röntgen dort, sie spritzen und nähen - doch viele der Patienten liegen bald wieder vor ihnen.Mareen Linnartz Der Tag war heiß, und das ist schlecht.

Die Ärzte röntgen dort, sie spritzen und nähen - doch viele der Patienten liegen bald wieder vor ihnen.Mareen Linnartz

Der Tag war heiß, und das ist schlecht. Denn heute ist auch Freitag, Zahltag, da wird viel getrunken. Hitze und Alkohol, das weiß Walter Mophosho aus Erfahrung, vertragen sich überhaupt nicht gut. Da wird er wieder viel Arbeit haben. Der Doktor stopft sich einen Kaugummi in den Mund, kaut lustlos darauf herum und richtet seinen leeren Blick auf eine Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Kurz nach sieben. Plötzlich stößt er ein irres Lachen aus, hell und kehlig. Dann sagt er in seltsam gleichgültigem Tonfall: "Zwei Stunden noch, dann ist das hier die Hölle."

Schichtbeginn für Walter Mophosho in der Notaufnahme des Chris-Hani-Baragwanath-Hospitals, dem größten Krankenhaus der Welt. Es steht in Johannesburg, Südafrika. 300 Schwerverletzte werden in den nächsten zwölf Stunden eingeliefert werden, die meisten mit ähnlichen Befunden - das Bein angeschossen, die Bauchdecke aufgeschlitzt, das Gesicht von einem Flaschenhals malträtiert. Das gesammelte Elend einer Stadt, in der Polizisten nur noch mit kugelsicherer Weste auf Streife gehen und Traumakliniken kriminalitätsgeplagten Einwohnern helfen; auf deren Straßen Krieg herrscht. Jeden Tag werden in Johannesburg elf Menschen ermordet. Wer hier in die Notaufnahme kommt, hat gerade noch überlebt. Am Eingang das Schild: "Es werden nur WIRKLICH dringende Fälle aufgenommen."

Die Notaufnahme ist eine spärlich beleuchtete Baracke - seltsam klein für ein Krankenhaus dieser Größe: 7000 Menschen arbeiten dort, 117 000 Patienten wurden im vergangenen Jahr aufgenommen, jeden Tag 30 Babys geboren. Wenig deutet darauf hin, dass sich in der Baracke Nacht für Nacht Dramen abspielen. Dass Kinder ihre Väter und Mütter ihre Söhne verlieren. Jetzt, um kurz nach neun, schaffen Krankenwagen das Leiden im Akkord heran; drinnen im kalten Neonlicht stauen sich rote Tragen, darauf Geschöpfe, die leise vor sich hin wimmern. Einem ist die Wange durchstochen. Durch die rosa klaffende Wunde sieht man in die Mundhöhle. Ein anderer schreit: "Ich kriege keine Luft!" Mullbindenreste liegen auf dem grauen Linoleumboden, an manchen Stellen ist er blutverschmiert. Es riecht, dass einem schlecht wird: Eine Mischung aus Alkohol, getrocknetem Blut und Diesel, der von den Motoren der Krankenwagen hereinweht. Walter Mophosho schaut mit wissendem Blick herüber. Er hat Recht behalten: Es ist jetzt die Hölle.

Neben ihm, mitten im Gang, sitzt auf einer Trage Joseph Sbeko, 25. Sauberer Stich in Lungenhöhe, die Schwestern haben bereits notdürftig eine durchsichtige Plastikfolie darübergeklebt. Der Mann atmet schwer, seine Lippen sind zusammengepresst, und weil seine Lunge so pumpt, sprudelt das Blut in regelmäßigen Abständen wie eine Fontäne aus der Wunde und sammelt sich unter der Folie. Er kann kaum sprechen, aber Walter Mophosho zeigt keine Rührung und schreibt die Versatzstücke einer üblichen Geschichte auf sein Klemmbrett: Streit mit dem Nachbarn gehabt, zu viel getrunken, da ist es eben passiert. Wie das genau mit dem Atmen sei? Joseph Sbeko keucht, sein Augenweiß tritt hervor. Walter Mophosho pappt ihm einen roten Sticker auf die Stirn: "Urgent" - Dringend. Aber es kann noch dauern.

Seit neun Jahren arbeitet der 40-Jährige in der Notaufnahme, beinahe jede Nacht, das ist nicht spurlos an ihm vorrübergegangen: Seine Augen sind matt, die Bewegungen fahrig. An den unpassendsten Stellen muss er nervös kichern. Walter Mophosho hat einfach zu oft Patienten wie Joseph Sbeko gesehen: Jungs ohne Zukunft aus einem der Townships vor den Toren der Stadt. "Heute flicke ich sie zusammen, und morgen liegen sie wieder da", sagt Walter Mophosho sarkastisch. 80 Prozent der Eingelieferten sind alkoholisiert, jeder Dritte, schätzt Walter Mophosho, ist mit HIV infiziert. Wirklich helfen, sagt er selbst, kann er schon lange nicht mehr. "Ich verhindere nur das Schlimmste." Aber das Schlimmste wird immer schlimmer: In keinem anderen Land der Welt werden mehr Gewaltverbrechen begangen als in Südafrika. Alle zwanzig Minuten ein Mord. Alle 23 Sekunden eine Vergewaltigung. Nun, nach dem Ende der Apartheid, prallen Reichtum und Armut hart aufeinander, vier Millionen illegale Waffen begünstigen den Ausbruch von Gewalt. "Man hat keinen Respekt mehr vor dem Leben des anderen", sagt Walter Mophosho. Was das heißt, kriegt der Doktor Nacht für Nacht zu sehen.

Das Baragwanath-Hospital liegt im Süden von Johannesburg. Die reichen Vororte im Norden, wo die Häuser Swimmingpools und die Hausbesitzer BMWs haben, sind nur eine halbe Autostunde entfernt. Im Süden zeigt die Stadt ihr hässlichstes Gesicht: Townships, von der Apartheid-Regierung angelegte Schlafstädte für schwarze Arbeiter. Hier sind die Straßen staubig, die wenigsten Häuser haben Wasser und Strom; hier gibt es Gebiete, in denen Gangs die größten Arbeitgeber sind und Polizisten sich schon lange nicht mehr hintrauen. Hier ist der Traum Nelson Mandelas von einem vereinten, prosperierenden Südafrika ganz weit weg. Allein Soweto, das größte Township, soll heute vier Millionen Einwohner haben. Das Baragwanath-Hospital soll sie versorgen.

Im Krankenhaus begegnet man dem mit einer eigenen Art von Rationalisierung. In der Notaufnahme wird wie am Fließband gearbeitet: Am Beginn des langen, schmalen Ganges stellen Ärzte eine erste Diagnose, in der Mitte, hinter schmuddelig hellblauen Vorhängen, wird geröntgt, genäht, gespritzt. Am Ende des Korridors, wenn nichts mehr hilft: der Operationssaal. Alles ist eingespielt, selten wird es laut, sechs Ärzte und acht Schwestern verrichten ihre Arbeit mit einer professionellen Resignation. Dazu gehört auch, sich auf das wirklich Wesentliche zu beschränken. Und deswegen sitzt Johannes Sahepu nun schon seit zwei Stunden auf einer Holzbank am Beginn des Ganges, ohne dass jemand auch nur einen Blick auf ihn geworfen hätte. Er ist auch kein wirklich dringender Fall: Er blutet zwar heftig, weil sein rechtes Ohr zur Hälfte vom Kopf abgetrennt ist und jetzt seltsam runterhängt. Aber das ist ja nicht lebensbedrohlich. Johannes Sahepu, 22 Jahre alt, war auf einer kleinen Party in Soweto, als das Ganze irgendwie eskalierte. Warum, weiß er nicht mehr so recht. Was genau passierte, auch nicht. Er stinkt schwer nach Alkohol und hat Mühe, sich auf der Bank zu halten. Sein Onkel, der in Frotteehose und Hausschuhen neben ihm sitzt, will wissen, wann sein Neffe endlich dran kommt. Aber jetzt ist keine Zeit für abgerissene Ohren, es ist halb zwölf, da ist es im Baragwanath am schlimmsten. Da ist im Operationssaal so viel los, dass auf dem Boden Kittel, Mundschutz, Verbände einfach liegen bleiben. Auf den Wartebänken davor sitzen Mütter, Brüder, Schwestern, die hoffen, beten, sich Tränen aus den Augen wischen.

Suhiette Williams zum Beispiel. Suhiette ist 14, ihre nackten Füße stecken in löchrigen Lederschlappen, sie trägt nur T-Shirt und eine dünne grüne Stoffhose. Sie zittert. Ihre ältere Schwester, 21, liegt im Not-OP, der Freund hat ihr in rasender Eifersucht einen Stich nahe der Halsschlagader versetzt. Suhiette sagt leise: "Wenn meine Schwester stirbt, will ich auch sterben." Der Junge neben ihr wartet auf seinen Bruder. Er kämpft damit, sich wach zu halten, aber man weiß nicht, ob es nur Müdigkeit ist oder doch etwas anderes. Dem Bruder wurde das Bein durchschossen, es gab Ärger wegen Geld, der Junge schaut unwillig, was ist daran schon besonders? Ein Mann irrt an den Wartenden vorbei, auf seiner Stirn steht kalter Schweiß, aber man sieht keine Verletzung. Seine rechte Hand umklammert die linke. Als er sie für einen Moment loslässt, sieht man, dass der kleine Finger fehlt. So sieht es aus, im Warteraum zur Hölle. Es ist seltsam ruhig. Sprachfetzen von Zulu, Xhosa, Tsuana vermischen sich zu monotonem Gemurmel.

Kurz vor eins. Joseph Sbeko, der Mann mit dem Stich über der Lunge, hat es inzwischen bis an das Ende des Ganges geschafft: in den Operationssaal. Johannes Sahepu ist mit seinem herunterhängenden Ohr verschwunden, und Walter Mophosho versorgt immer noch die Neuankömmlinge. "Jetzt wird es ruhiger. Nach drei Uhr ist fast gar nichts mehr los", sagt er. Doch mit einem Mal schwellen die Stimmen der Schwestern an. Hektisch winken sie einander herbei. Auf einer Trage am Beginn des Korridors liegt ein blutüberströmter Körper. Der Kopf ist weggekippt, die Augen sind geschlossen, um den Hals liegt eine lange Kette mit silbernen Kreuz, aber das sieht man kaum noch, denn auf dem nackten Oberkörper hat sich das Blut zu einer roten, klumpigen Masse geformt. Wie alt der Junge ist? Vielleicht 17, 18. Die Mutter, in ein grünes Tuch gewickelt und mit aufgerissenen Augen, wischt mit einem Taschentuch das Blut an den Rändern der Trage weg. Ein Arzt kommt, tastet mechanisch den Körper ab, beginnt rhythmisch mit den Handinnenflächen auf die Brust zu drücken. Nach einer knappen Minute hält er inne. Er verharrt kurz, dann zieht er behutsam die Decke über den Kopf des Jungen und bedeutet mit einer Handbewegung den Schwestern, die Trage wegzuschieben. Die Mutter bleibt erstarrt zurück. In der Hand hält sie das blutgetränkte Taschentuch ihres Sohnes.

Mareen Linnartz

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