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Jugendgewalt: "Konsequenz ist alles"

Ein Mann ist in München totgeschlagen worden, weil er Jugendlichen geholfen hat. Wie kann man helfen, ohne selbst zu Schaden zu kommen? Ein Gespräch mit Veit Schiemann von der Beratungsstelle für Kriminalitätsopfer Weißer Ring.

Oft ist die Zivilcourage der Zuschauer das einzige, was potenziellen Gewaltopfern helfen könnte. Nun war einer sehr mutig und ist deshalb getötet worden. Der 50jährige hat vier Jugendlichen beigestanden, als sie von drei Männern bedroht wurden. Wird der Fall bewirken, dass noch weniger Leute bereit sind zu helfen?

Dieser Fall müsste im Gegenteil ein Fanal werden. Jeder sollte sich überlegen: Was kann ich als einzelner tun, damit das nicht noch einmal passiert? Die gesamte Gesellschaft muss Konsequenz zeigen. 

Aber die Angst ist groß. Was kann man denn den Menschen empfehlen, damit sie diese Angst überwinden?

Man muss sich klar machen, dass die Angst davor, anderen zu helfen, verschiedene Aspekte hat. Einiges davon ist leicht zu entkräften. So befürchten viele Menschen nur, dass ihre Kleidung beschädigt wird oder die Brille kaputt geht. Aber solche Folgekosten werden durch die Gemeindeunfallversicherung abgedeckt. Das muss man nur wissen. Andere scheuen die Mühe, die es erfordert, Hilfe zu leisten. Sie wollen sich nicht in die Öffentlichkeit begeben, weil sie noch nicht beim Friseur waren. Oder sie scheuen den Zeitaufwand, den es bedeutet, nachher noch zur Polizei und vor Gericht gehen zu müssen. Das ist unterlassene Hilfeleistung und müsste unserer Ansicht nach viel konsequenter verfolgt werden.

In diesem neuen Münchner U-Bahn-Fall hatte der Mann diese Ängste nicht. Kann man sich selbst schützen und trotzdem eingreifen?

Er hat all das getan, was man sich nur wünschen kann. Dass er dennoch starb, ist in dieser Extremheit ein Einzelfall. Diese Erkenntnis nutzt dem Opfer und seinen Angehörigen gar nichts. Aber dass Nothelfer zu Tode kommen ist sehr selten; dass sie körperlich zu Schaden kommen, passiert allerdings schon. Deshalb raten wir immer dazu, außerhalb der Gefahrenzone zu bleiben. Am besten sofort auf dem Handy die Polizei anrufen, und gegebenenfalls dazu um die Ecke gehen.

Haben Sie weitere konkrete Tipps, wie man wirksam helfen kann, ohne selbst verletzt zu werden?

Wichtig ist es, Öffentlichkeit zu schaffen. Das tut man am besten, in dem man jemanden konkret anspricht. Man sollte also nicht aufspringen und in die Runde rufen: Jetzt hilf doch mal jemand. Besser ist es, Aufträge verteilen: Sie mit der roten Mütze, können Sie die Polizei anrufen? Und sie mit der grünen Tasche: Könnten Sie sich genau einprägen, wie die Jungs aussehen? Die Täter merken: Ich werde von allen beobachtet und später erzählen sie alles der Polizei. Dadurch lassen sie hoffentlich vom Opfer ab.

Also doch nicht heimlich um die Ecke gehen zum Telefonieren?

Jede Situation ist anders und kann je nach Person anders eingeschätzt werden. Wenn fünf jugendliche muskulöse Männer einen Einzelnen bedrängen und Sie sind schwächlich und der einzige Zeuge, dann bringen sie sich selbst lieber in Sicherheit und schildern der Polizei sehr eindrücklich, wie dringend Hilfe gebraucht wird. Das Martinshorn hört man auch von weitem schon.

Jugendliche werden oft zu Opfern von Pöbeleien und Gewalt. In diesem Fall wurden vier 13 bis 15jährige angegriffen. Wie können sich Kinder und Jugendliche vorbereiten?

Selbstbehauptungstrainings sind sinnvoll. Ich meine damit nicht Selbstverteidigungskurse. Man kann zum Beispiel üben, "stark zu gehen". Damit signalisiert man: Ich bin ein Gegner auf Augenhöhe. Gewalttäter suchen sich oft die vermeintlich Schwächeren aus, wenn sie erpressen wollen. In so einem Fall können solche Trainings helfen.

Aber das typische Opfer gibt es eigentlich nicht mehr. An dem aktuellen Münchener Fall sieht man ja, dass es nicht immer unsichere schwache Menschen trifft. Manche Gewalttäter suchen sich sogar gerade starke Opfer. Wie eine sportliche Herausforderung sehen sie das.

Hat sich die Art der Gewalt auch verändert?

Ja. Zwar haben die Präventionsmaßnahmen zum Glück die Anzahl der Gewalttaten zurückgefahren. Aber die, die noch passieren, sind schlimmer als vorher. Es gibt keinen Ehrenkodex mehr. Früher hieß es: Wer am Boden liegt, wird nicht mehr geschlagen. Jetzt wird nicht abgebremst, sondern gezielt ins Gesicht getreten. 

Nun wird wieder ein härteres Jugendstrafrecht gefordert. Ist das in Ihrem Sinne, wenn Sie Konsequenz fordern?

Das ist Humbug. Die rechtlichen Möglichkeiten reichen aus. Man muss sie nur konsequent anwenden. In der Strafverfolgung sowie im Gerichtsverfahren. Das Erwachsenenstrafrecht sollte angewendet werden, wenn es möglich ist. Man braucht keine Boni verteilen, nur weil jemand jung ist. Außerdem muss das Problem frühzeitig und überall angegangen werden, nicht nur in der Familie und in der Schule. 

Wie läuft das mit der Abschreckung?

Abschreckend wirkt nicht die Androhung der Strafe. Was aber wirkt, ist das Zusammentreffen der Jugendlichen mit einem älterem Täter, der nie wieder aus dem Gefängnis kommt, der erzählen kann, wie eng seine Zelle ist, was das tatsächlich Schlimme am Gefängnisleben ist. Dann wird die Gefängniserfahrung bald nicht mehr kultisch verehrt.

Hilft denn Prävention?

Ja. Kriminelle Karrieren beginnen im Kleinen. Wir betreiben zum Beispiel seit zwölf Jahren das Projekt "Sportler setzen Zeichen gegen Jugendkriminalität". In Fußballturnieren lernen die gefährdeten Jugendlichen wieder Regeln und bauen Aggressionen ab. Das wird dann ins normale Leben übertragen. Jugendämter, Vereine, Schulen und die Polizei arbeiten zusammen. Die Polizeibeamten am Ort berichten, dass sich tatsächlich dadurch etwas ändert. Die Kriminalstatistiken bessern sich und Jugendliche aus dem sogenannten sozial schwachen Milieu wenden sich plötzlich mit ihren privaten Problemen an die Beamten.

Was geschieht im Gefängnis? Beide Täter aus München haben schon eine kriminelle Karriere hinter sich und offensichtlich wenige Perspektiven in unserer Gesellschaft. Sind solche Leute noch zu ändern?

Das kommt zum einen auf das Gefängnis an. Wirkt es nur als Verwahrstelle, wird es nur ein Meilenstein in der kriminellen Karriere sein. Verschiedene Resozialisationsmaßnahmen können jedoch schon helfen, diese Menschen zu normalen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Dabei kommt es wiederum auf den Willen der Täter an.

Was sollte man ansonsten tun, um die Menschen in den Bahnen und Bahnhöfen zu schützen. Was halten sie von Überwachungskameras, mehr Sicherheitspersonal und Notrufsäulen?

Kameras können vielleicht kleine Straftaten ausmerzen. Drogendelikte zum Beispiel verlagern sich jedoch einfach ein paar Meter weiter. Dem Gewaltopfer nutzen die Kameras wenig. Dafür müssten die Aufnahmen ständig überwacht werden und Einsatzteams überall bereit stehen.

Schwarze Sheriffs verbreiten selbst mehr Angst als dass sie Gewalttaten verhindern. Es gibt kein Allheilmittel. Es braucht 500 Schritte und die gesamte Gesellschaft muss zusammenarbeiten. Dabei ist Prävention die wichtigste Maßnahme und Konsequenz alles.

Der Weiße Ring berät Kriminalitätsopfer und ihre Familien und führt Präventionsmaßnahmen aus. Das Gespräch führte Parvin Sadigh

Quelle: ZEIT ONLINE

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