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Kampf gegen die Flammen: Russland brennt

Über Russland rast derzeit die schlimmste Waldbrandkatastrophe seit Beginn meteorologischer Aufzeichnungen. 180.000 Einsatzkräfte versuchen den Flammen Einhalt zu gebieten – es scheint ein aussichtsloser Kampf zu sein.

Grau und verwittert sind die Mauern des Kirchleins in Motmos, einem Dorf in der Wolgaregion Nischni Nowgorod. Das Gotteshaus hat schon einiges mitgemacht: Verfolgungen in der Stalin-Ära, in der es als Lager diente, zuvor Bauernaufstände und noch früher die Überfälle der Mongolen. Das orthodoxe Kreuz auf dem weißen Turm scheint fast die tief hängenden Wolken zu berühren, die über den Abendhimmel jagen. Ihre Ränder sind orangefarben angehaucht, und das kommt nicht von der untergehenden Sonne, sondern von der Feuerwand, die sich in den Wäldern hinter dem Dorf aufbaut. Angefacht vom Wind, der die Klöppel der Glocken bewegt und ihnen zuweilen ein Sturmgeläut wie zur Mongolenzeit entlockt. Und so wie vor achthundert Jahren vor den Steppenkriegern fliehen die Bauern jetzt vor dem Feuer.

Über Russland rast derzeit die schlimmste Waldbrandkatastrophe seit Beginn meteorologischer Aufzeichnungen vor 130 Jahren hinweg. Über sieben Regionen Zentralrusslands hat Präsident Dmitri Medwedew bereits den Ausnahmezustand verhängt, in weiteren sieben gilt die Lage als ähnlich katastrophal. Das sei schamlos untertrieben, empörten sich unabhängige Experten. Kritisch ist aus ihrer Sicht die Lage in 37 der insgesamt achtzig Regionen.

In der Tat: Die Taiga in Ostsibirien brennt lichterloh, die Urwälder an Amur und Ussuri an der Grenze zu China stehen ebenfalls in Flammen. Doch in Fernost, wo das Kontinentalklima im kurzen heftigen Sommer für Temperaturen um die vierzig Grad sorgt, brennen die Wälder jedes Jahr. Und die Region ist nur dünn besiedelt. Anders als Zentralrussland, das in gemäßigten Breiten liegt und daher zum ersten Mal ein derartiges Inferno erlebt.

Am schlimmsten hat es die Region Nischni Nowgorod erwischt. Die Sicht in der Millionenstadt beträgt nur wenig mehr als dreihundert Meter, auf dem Flughafen können seit Tagen keine Maschinen mehr landen oder starten. Die Flammen haben sich teilweise bis an die Fernverkehrsstraßen gefressen, die deshalb zum Teil gesperrt sind.

77 Ortschaften sind bisher niedergebrannt – das Dorf Werchnjaja Wereja in weniger als zwanzig Minuten. „Die Männer haben versucht, Gräben auszuheben“, sagt Vera Samochina. „Doch die Feuerwand raste gleich von zwei Seiten auf uns zu.“ Ihre Nachbarin habe mehrmals beim regionalen Stab des Ministeriums für Katastrophenschutz angerufen und immer die gleiche Antwort bekommen: Nicht in Panik verfallen, Busse seien bereits unterwegs. „Doch kein einziger ist gekommen“, sagt die 64-jährige Rentnerin. „Da haben wir schnell die Papiere zusammengerafft, ein bisschen Wäsche, was zu Essen und Wasser in eine Reisetasche gepackt und sind los zur Fernverkehrsstraße. Da kamen dann wirklich Busse, aber die Plätze reichten bei weitem nicht für alle.“

Wer konnte, ist zu Verwandten geflüchtet. Frau Samochina hat sich bei ihrer Tochter in Nischni Nowgorod einquartiert. Die meisten Dörfler sind in eilig geräumten Ferienlagern wie „Lasurni“ untergebracht. Sie könnten nicht klagen: Drei Mal täglich gebe es gut und reichlich zu essen, Ärzte seien da und sogar Psychologen, sagt Tatjana. Ihren Nachnamen will die Hausfrau und Mutter dreier Kinder nicht preisgeben. „Wir haben jetzt andere Sorgen“, sagt sie und wendet sich wieder dem Fernseher zu. Der Nachrichtenkanal Vesti 24 sendet jede halbe Stunde neue Bilder von neuen Bränden.

Wladimir Stepanow, der Leiter des Krisenstabs im Ministerium für Katastrophenschutz, sprach bereits zu Wochenbeginn von rund 7000 Brandherden landesweit. Täglich kämen bis zu 300 neue dazu. Am Donnerstagmittag brannten fast 600 000 Hektar Wald. Im Gebiet Lipezk gingen neben Wäldern auch hunderte Hektar Weizen in Flammen auf. Und rund um Moskau brennen die Torfbrüche, die zu Sowjetzeiten entwässert wurden, um den Abbau zu erleichtern.

Eigentlich brennen sie nicht, sie schwelen. Das Feuer breitet sich unter der Erde aus und wandert dabei mehrere Kilometer. An die Oberfläche kommt es durch Erdspalten, befreit und mit Sauerstoff versorgt, steigert es sich zum Feuersturm. Häufig mitten in Siedlungen, für die dann jede Hilfe zu spät kommt.

Katastrophenschützer versuchten abzuwiegeln. Keinem Dorf drohe unmittelbare Gefahr. Die Bewohner von Schuwoje haben da ihre Zweifel. Brandwachen patrouillieren rund um die Uhr, seit sich Donnerstag vergangener Woche die Wiese vor dem Dorf entzündete. Mit Mullbinden vor dem Gesicht, Spaten und Schaufeln in der Hand versuchten die Einwohner, den Flammen die Nahrung abzugraben. Zum Glück drehte sich dann der Wind.

Am Wochenende kamen Freiwillige: Studenten der Moskauer Lomonossow-Universität. Sie zeigen den Dörflern vor allem, wie man die Ausbreitung des Feuers mit einfachen Mitteln verhindern kann. Zwei, drei Mann stehen dazu auf Hügeln und suchen das Gelände mit Ferngläsern ab. Zeigt sich irgendwo Rauch, springen sie in bereitstehende Autos und versuchen zu löschen. Frische Herde, sagt Artjom Semenko, der Biologie studiert, und bereits seit drei Jahren Freiwilligen- Brigaden organisiert, könne man mit etwas Glück in einer halben Stunde löschen, Feuer, das schon eine Stunde brennt, bestenfalls in einem Tag. Für ältere Feuer brauche man manchmal Wochen.

Fast 180 000 Mann – Luftwaffe und Einheiten der regulären Armee, Katastrophenschützer und andere Einsatzkräfte, sogar die Verbände der Laubenpieper und Kleintierzüchter – haben Kreml und Regierung bereits gegen das Feuer in Marsch gesetzt. Die Erfolge sind durchwachsen. Bestens bewährt haben sich provisorische Rohrleitungen. In rekordverdächtigem Tempo verlegt, pumpen sie bis zu 3000 Kubikmeter Wasser aus Flüssen und See direkt in die Gefahrenzonen.

Noch effektiver sind modifizierte Fliegerbomben. Sie sind 500 Kilo schwer, können auch von Hubschraubern abgeworfen werden und enthalten statt Sprengstoff Löschmittel, die bei der Explosion punktgenau und ohne Verluste ins Ziel gebracht werden. Die dabei entstehende Druckwelle entzieht der Luft zudem den Sauerstoff, wodurch das Feuer zusätzlich gedimmt wird.

Theoretisch. Praktisch kam der Hersteller – der Rüstungskonzern Basalt – über Prototypen nicht hinaus. Sie wurden auf internationalen Ausstellungen erfolgreich vorgeführt. Griechenland und Kroatien waren begeistert, scheuten aber die Anschaffungskosten. Ebenso die russische Regierung. Katastrophenschutzminister Sergej Schoygu ist daher weiter auf die extrem vom Wetter abhängigen Löschflugzeuge angewiesen. Russland besitzt davon gerade mal sechs – ein Tropfen auf dem heißen Stein: Russland ist der weltweit größte Flächenstaat, die Entfernung von Kaliningrad im Westen und Wladiwostok im Osten beträgt über 10 000 Kilometer. Und selbst in „normalen“ Jahren vernichten Brände im Durchschnitt elf Quadratkilometer Wald.

Schuld an dem Desaster, so Katastrophenschutzminister Schoygu, sei nicht das Wetter, sondern der Mensch, der Zigarettenkippen achtlos wegwirft, Grillfeuer nicht richtig löscht oder Flaschen liegen lässt. An einem einzigen Wochenende würden dadurch neue Brände auf einer Fläche entstehen, die in etwa dem entspricht, was in den fünf Tagen zuvor gelöscht wurde.

Jetzt fällt Russlands Herrschern auf die Füße, dass sie die zarten Ansätze einer Zivilgesellschaft aus machtpolitischen Erwägungen unterdrückten, und damit auch Werte wie Bürgersinn und Solidarität. Fahrer von Sammeltaxis in Nischni Nowgorod verweigerten zunächst Fahrten in die Gefahrenzone, dann verlangten sie den dreifachen Fahrpreis. Ebenso die Händler auf den Bauernmärkten. Im Gebiet Wladimir legte ein ganzes Dorf Feuer in den eigenen Hütten. Zuvor hatte ein Gerücht die Runde gemacht, wonach die Regierung in Moskau deutsche Firmen mit Neubauten für Brandopfer beauftragt habe.

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