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Panorama: "Kanak Attack": Ich bin stolz, ein Kanake zu sein

Voltaire", "Tucholsky", "Kafka", "Böll" - die Namen klingen, als würden hier Veranstaltungen des Fachbereichs Germanistik abgehalten. Doch die großen weißen Schilder mit der schwarzen Fraktur-Schrift weisen nicht zu einem Seminarsaal, sondern eine breite, fleckig-braun gekachelte Treppe hinab: in das Zentrum des Nachtlebens von Kiel.

Voltaire", "Tucholsky", "Kafka", "Böll" - die Namen klingen, als würden hier Veranstaltungen des Fachbereichs Germanistik abgehalten. Doch die großen weißen Schilder mit der schwarzen Fraktur-Schrift weisen nicht zu einem Seminarsaal, sondern eine breite, fleckig-braun gekachelte Treppe hinab: in das Zentrum des Nachtlebens von Kiel. Der Amüsierkomplex an der Bergstraße nennt sich etwas angestaubt "Schüler-, Studenten- und Szene-Treff". Und wie überall in Deutschland ist eines schon beim ersten Blick sicher: Wo "Szene" draufsteht, ist garantiert keine drin.

An den kahlen Wänden bricht sich Schall, der den verschiedenen Kneipen und Diskotheken entströmt. Kirmes-Techno und Hard-Rock vermengen sich zu einem schwer verdaulichen Brei. Türsteher warten in dem leeren, zugigen Gang auf Gäste. Mittwochabend. Nix los - bis auf die alkoholisierten Landeier, die gerade so unvorsichtig waren, einem bulligen Aufpasser zu widersprechen und nun mit lautstarken Worten des Hauses verwiesen werden. Ein paar blass geschminkte Grufties schauen ratlos zu.

Ganz unten im Keller eröffnet sich der schummrige Mief des "Voltaire". Dunkles, gedrechseltes Holz, wohin das Auge fällt; ein paar Dutzend Gäste, die in träger Routine an Billard-Tischen und Spielautomaten hantieren und irgendwie den Abend morden. Nebenan im "Kafka" wird - ebenfalls zu Hard-Rock - Essen serviert, das dem Namenspatron Ehre macht.

"Am Wochenende", sagt Feridun Zaimoglu, "ist hier der Teufel los." Er sagt das nicht, um den Ruf Kiels als Party-Hauptstadt zu verteidigen. Sondern, weil dieser so wenig vergeistigte Ort einmal der Stammplatz von Ertan Ongun war - und es schwer fällt, sich vorzustellen, wie sich auf dem sauberen Bürgersteig draußen vor der Tür jene Geschichten abgespielt haben, die Zaimoglu in seinem Buch "Abschaum" beschreibt. Damals hieß das "Voltaire" noch "Flohmarkt" und war der bevorzugte Aufenthaltsort von Ertan Ongun, der nach Kräften dealte und seine Dinger drehte, bis er zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. Nach rund der Hälfte wurde er unter Auflagen aus dem Gefängnis Neumünster entlassen und lernte den Schriftsteller Feridun Zaimoglu kennen.

Ihm erzählte er in langen Tagen und Nächten seine kleinkriminelle Karriere, wohnte sogar zeitweise in Zaimoglus Wohngemeinschaft. Das Buch "Abschaum" schildert in einem kraftvollen Rap aus Deutsch, Türkisch und "Kanakster"-Slang, wie Ongun, der sich immer für einen besonders coolen Durchblicker hielt, mit seinen kleinen Gaunereien immer wieder auf die Schnauze fliegt, wie er die Brutalität im Rotlicht-Milieu unterschätzt, wie er nach jahrelangem Saufen, Kiffen, Koksen schließlich an der Nadel hängt.

Ertan Ongun ist heute 29 Jahre alt, clean - und noch einmal davongekommen. Er hat seine Vergangenheit hinter sich gelassen, versucht sich als Musiker. Aber sein Leben, das längst ein typisches Ende hätte nehmen können, ist nun Stoff für die Leinwand. "Kanak Attack" heißt der Film, der seit letzter Woche in deutschen Kinos läuft - und die Gemüter erhitzt: Tut man mit diesem Film den Türken in Deutschland einen Gefallen?

Diese Fragen hört Feridun Zaimoglu oft. Er ist zu einer Art Sprecher der türkischstämmigen Deutschen geworden. Eine Rolle, die ihm zuwuchs, seit er vor fünf Jahren sein Buch "Kanak Sprak" veröffentlichte. Diese "Misstöne vom Rande der Gesellschaft" machten aus dem Schimpfwort "Kanake" eine Ordensbezeichnung. Türkischstämmige Deutsche nennen sich heute mit Stolz "Kanake" oder "Kanakster".

Mehr als 400 Lesungen hat Zaimoglu mittlerweile absolviert. Er sitzt auf Podien, gibt Interviews, spricht in Kameras. Und er ist trotzdem nicht der brave Vorzeige-Türke mit der Erfolgsgeschichte. Seine scharfzüngigen Äußerungen weisen immer wieder darauf hin, dass es nicht damit getan ist, wenn die Deutschen ihre "ausländischen Mitbürger" plötzlich ganz lieb haben und die "ausländischen Mitbürger" sich in die kuschelige Vereinnahmung eines Wischi-Waschi-Multi-Kulti fügen.

Bei einer Voraufführung in der Berliner Akademie der Künste zum Beispiel waren es ausgerechnet Deutsche, die ihm vorwarfen, sein Buch und der Film "Kanak Attack" transportierten genau jene Klischees, mit denen reaktionäre Politiker immer wieder die Angst der Deutschen vor Überfremdung schüren. Der Türke gilt als schutzwürdig - und hat deshalb gut zu sein. Die Wirklichkeit ist widersprüchlicher, als es mancher Wohlmeinende wahrhaben möchte. Wer die Verhältnisse in Deutschland abbilden will, kommt nicht darum herum, dass Verbrechen von Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben begangen werden. Und wenn sie, wie Ertan Ongun, in einem trostlosen Vorort wie dem Kieler Stadtteil Gaarden aufwachsen, liegt die Wahrscheinlichkeit deutlich höher.

Szenenwechsel: Wir sitzen in Zaimoglus Küche. Die Drei-Zimmer-Wohnung in der Kieler Innenstadt wirkt, als würde ihr Inhaber hauptsächlich ambulant leben. Überall stapeln sich Briefe, Zeitungsausschnitte und Reise-Utensilien. Eine Kaffeemaschine gurgelt unter schwerem Kalk. Die Temperatur liegt deutlich unter 20 Grad. Ein Freund, der in der Abwesenheit nach dem Rechten sieht, hat vergessen, die Nachtspeicher-Heizung anzuschalten. Zaimoglu raucht zwei bis drei Schachteln am Tag, und wenn er nach Hause kommt, holt er sich Junk-Food von der Tankstelle. So lebt ein Medien-Nomade. Zum Schreiben kommt er fast nur im Zug. Ob er in Kiel lebt oder anderswo - das macht kaum noch einen Unterschied. Doch sein Wohnsitz ist diese Stadt mit ihrer klinkergemütlichen Norm-Fußgängerzone, die ungefähr den gleichen Charme hat wie Bielefeld, nur dass es einen Hafen gibt. Dieser "Stein gewordene Bolschewismus" ist seit 17 Jahren das, was er Heimat nennt.

Vorher zog Familie Zaimoglu immer wieder kreuz und quer durch Deutschland. Feriduns Vater arbeitete in Chemiefabriken, die Mutter putzte. Zur Schule gegangen ist er in München. Sein erstes Diktat, sagt er, bestand aus 46 Wörtern und enthielt 46 Fehler. Seiner Lehrerin, Frau Hübler, ist er noch heute dankbar für die Geduld, mit der sie ihm in endlosen Nachhilfestunden das Gefühl für die deutsche Sprache einpaukte. Danach hatte er sogar Mühe, sich den Münchner Akzent wieder abzugewöhnen.

Mittags kam Feridun häufig mit blauen Flecken heim. Wenn es darum ging, mit den Nachbarskindern "Cowboy und Indianer" zu spielen, war er stets der Erste, der tot umfallen musste. Seine Kindheit kann Zaimoglu mit einer Liebe zum Detail schildern, die der "Generation Golf" in nichts nachsteht. Auch er kann von Zeiten erzählen, als Heintje-Platten liefen und die "Bild"-Zeitung einen Groschen kostete. Damals, in den Siebzigern, als dem Autor Günter Wallraff ein Schnurrbart genügte, um als Türke durchzugehen.

"Türkischstämmiger Deutscher" - muss ich dieses Wortungetüm benutzen? Schließlich haben wir beide den gleichen Pass. "Kanake ist schon okay", sagt er, und der Schalk springt aus den von Reisemüdigkeit umränderten Augen. "Meine Identität ist ein Zombie, und ich empfinde das als Segen." Zaimoglu wünscht sich "keine Rauschunterdrückung", wie er es in seiner metaphernreichen Sprache nennt. Das heißt: keine falsche Harmonie. Hinter politisch korrekten Ausdrücken verbirgt sich nur zu oft Ungeheuerliches, das in unangreifbare Worte gekleidet wurde. Und hatte nicht vorhin der Taxifahrer, der über seine türkischen Kollegen herzog, mit seiner Nickelbrille ausgesehen wie ein typischer Grünen-Wähler?

Als Feridun Zaimoglu klein war, pflegte sein Vater zu sagen: Hier haben sie die Juden verbrannt, es ist immer gut, einen gepackten Koffer mit dem Nötigsten im Schrank zu haben. Sein Sohn sollte Arzt werden. Der Wunsch wurde nicht erfüllt. Feridun, der "Abitur-Türke", gab sein Studium nach dem ersten Staatsexamen auf. Malen wollte er. Ein kleiner Teil seines µuvres füllt die Wände und ein ganzes Zimmer, vollgestellt mit Großformaten. Seine Eltern sind inzwischen zurückgegangen. Sie haben sich ihr Haus an der türkischen Adria gebaut. Die Fotos zeigen einen Häusle-Traum, der in Erfüllung gegangen ist: die Böden sauber gefliest, Deckchen hier, Deckchen dort.

Vater Zaimoglu guckt aufs Meer und freut sich. Trotzdem haben er und seine Frau Sehnsucht nach dem Land, in dem sie 30 Jahre ihres Lebens gelassen haben. Für den Sohn war klar, dass er hier bleibt. Die Eltern jubelten am Telefon, als er ihnen erzählte, dass er gerade seinen deutschen Pass abgeholt habe. Der Sohn pocht heute auf Bürgerrechte, und wer wie Zaimoglu einmal in Magdeburg vom Mob gejagt wurde, guckt sich an jeder Tankstelle in Ostdeutschland genau um, bevor er aus dem Auto steigt. Und er denkt gelegentlich an den Koffer im Schrank. Aber nicht daran, ihn zu packen.

Ralph Geisenhanslüke

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