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Panorama: Kein Weg

Sie gelten als „Personenschäden“: Menschen, die sich vor die Bahn werfen

„In wenigen Minuten erreichen wir Hamm in Westfalen“, signalisiert die Anzeigetafel im ICE. Die Strecke von Berlin ins Ruhrgebiet ist fast geschafft. Der ICE hat bei strahlender Sonne noch 200 Stundenkilometer drauf. Plötzlich ein Rumpeln, als wäre er durch einen Holzstapel gefahren. Kurze Schrecksekunde, der Gedanke: „Hoffentlich sind die Räder okay.“ Nicht viel später bleibt der Zug an einem kleinen Bahnhof stehen. Die Stimme, die sich über Lautsprecher meldet, klingt ziemlich adrenalinhaltig: „Aufgrund eines Personenschadens verzögert sich unsere Weiterfahrt. Wir informieren Sie …“

Was genau passiert ist, wird zwar nicht gesagt, aber einige der Umsitzenden wissen es auch so: „Über 1000 Menschen werfen sich jährlich vor einen Zug“, doziert der Sitznachbar. „Das sind fast drei täglich“. Dem blonden Jungen schräg gegenüber ist das „kürzlich erst bei Mönchengladbach“ passiert. Die ersten zücken ihre Handys. Die Schaffnerin steht zwischen den Waggons und gibt inoffizielle Auskünfte. „Das letzte Mal hat es zwei Stunden gedauert“, sagt sie. Das „letzte Mal“ war für sie letzte Woche. „Wir müssen erst warten, bis die Feuerwehr da ist, die Polizei, die Staatsanwaltschaft … wer weiß, wo die alle jetzt stecken.“ Es sei allerdings ein Glück, dass der Zug an einem kleinen Bahnhof zum Halten gekommen sei. Da kommt man nämlich gut hin. „Vielleicht haben wir Glück, und es dauert nur anderthalb Stunden“, sagt sie. Im Speisewagen versucht eine gut gelaunte Runde das Beste aus der Situation zu machen und bestellt eine Runde Bier. „Wenn wir den Zug evakuieren, dann sollten sie wegsehen“, rät die nette Schaffnerin. Der Anblick sei nicht schön, da komme es auch vor, dass Leute einfach umkippen.

Unter den Reisenden outen sich immer mehr Experten zum Thema „Suizid und die Eisenbahn“: „Es müssen erst alle Teile gefunden und eingesammelt werden, vorher darf der Zug nicht weiterfahren“, sagt ein Mann mit Grabesstimme. „Die arme Familie“, wirft eine ältere Dame mit Kurzhaarfrisur ein. „Die Entscheidung fällt innerhalb von sechs Stunden“, sagt mit fachmännischer Miene ein junger Mann im hellen Anzug, „Krisenzeichen gibt es aber schon früher.“ Es sei gar nicht gesagt, dass es sich auf jeden Fall um eine Selbsttötung handele, wirft die Schaffnerin ein: „Manchmal laufen die Leute über die Schienen, um den Weg abzukürzen.“

Kaum vorstellbar, dass Depressionen einen Menschen in einen so gruseligen Tod treiben können. Noch schwerer vorstellbar, dass es auch nur reiner Leichtsinn sein kann, der ein so schreckliches Ende zur Folge hat. Draußen rennen Männer in gelb gestreiften Westen vorbei, dann eine Frau im weißen Kittel. Niemand darf den Zug verlassen. Nur der Zugführer. Als für ihn die Tür geöffnet wird, macht sie einen Höllenlärm. Nach 75 Minuten kommt eine Lautsprecheransage, dass es bald weitergehe. Immerhin bleibt die Klimaanlage an. Nach 90 Minuten lädt die Stimme die Fahrgäste ein, sich im Bordrestaurant „ein alkoholfreies Kaltgetränk“ abzuholen. Die Schlange, die sich blitzschnell bildet, reicht fast durch den ganzen Zug. Handys werden ausgeliehen. „Ja, also es kann noch dauern. Ihr braucht nicht zum Bahnhof zu kommen.“ Weitere zehn Minuten später: „Nun dauert es nur noch fünf Minuten, bis wir weiterfahren.“

Der Schaden an der Lokomotive ist größer als erwartet. Gut zwei Stunden nach dem Rumpeln wird der Zug evakuiert. Gebrechliche ältere Paare müssen riesige Koffer die Treppen des kleinen Bahnhofs runter- und wieder hochhieven, auch kräftige Familienväter verzweifeln am Umfang ihres Gepäcks. Im Bus müssen sich alle eng aneinander quetschen.

Ein Sprecher der Bahn bestätigt, dass es tatsächlich rund 1000 „solcher Fälle“ im Jahr gebe: „Mal mehr, mal weniger.“ Die Kosten seien nicht zu beziffern, da ja auch für die Reisenden jede Minute kostenrelevant sei. In jedem Fall müsse gewartet werden, bis die Staatsanwaltschaft die Strecke wieder freigebe. Schließlich müsse auch geprüft werden, „ob jemand nachgeholfen hat“. In der Regel bildeten sich auf der betroffenen Strecke auch noch Rückstaus. Die Fälle werden nicht öffentlich gemacht, um zu verhindern, „dass sich jemand stimuliert fühlen könnte, auf ähnliche Weise aus dem Leben zu scheiden.“

Die Leute im Zug sind richtig sauer. Manche machen sich lustig, die meisten schimpfen. „Am liebsten möchte ich dem richtig eine reinhauen“, meint der blonde Junge. „Zu spät“, sagt der Mann mit der Grabesstimme: „Leider“.

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