zum Hauptinhalt
Oscar Pistorius bricht in Tränen aus, als die Richterin seine Aussage zitiert.

© dpa

Keine Verurteilung wegen Mord oder Totschlag: Oscar Pistorius heult Rotz und Wasser bei der Urteilsbegründung

Oskar Pistorius reagiert hoch emotional, als er die Urteilsbegründung hört. Richterin Thokozile Masipa vertagt den Prozess jedoch überraschend. Das Urteil wird nun am Freitag verkündet.

Es ist zwölf Minuten nach neun, als sich Oscar Pistorius an diesem sonnigen Morgen eine kleine Schneise durch das Blitzlichtgewitter in den holzgetäfelten Saal GD des Obersten Gerichtshofes von Pretoria bahnt. Zunächst scheint es so wäre es das letzte Mal, dass er wenig später nach 42 emotional auszehrenden Verhandlungstagen  auf der Anklagebank Platz nimmt. Doch am Ende kommt alles ganz anders, als es erwartet wurde. Noch lässt er sich die enorme innere Spannung kaum anmerken. Vielleicht liegt die vermeintliche Gelassenheit an seiner vollzählig erschienenen Familie, die gleich nebenan steht. Überraschend ist selbst Bruder Carl nach seinem schweren Verkehrsunfall in einem Rollstuhl anwesend. Auch sein seit langem mit ihm zerstrittener Vater Henke ist erschienen und nimmt in der vorderen Zuhörerbank Platz. Pistorius´ Mutter ist bereits vor 12 Jahren verstorben.

20 Minuten später beginnt die weltweit mit enormer Spannung erwartete Urteilsverkündung. Von ihrem Sitz hoch über dem Angeklagten schildert Richterin Thokozile Masipa zunächst die Nacht des 13. Februar 2013, in der Pistorius seine Freundin Reeva Steenkamp erschoss. Von Beginn an hat der Sportler zugegeben, die 29jährige mit vier Schüssen durch eine geschlossene Toilettentür getötet zu haben, weil er sie für einen Einbrecher hielt. Im Gegensatz dazu ist Staatsanwalt Gerrie Nel überzeugt, dass sich Pistorius und seine Freundin in der besagten Nacht heftig stritten -  und der an den Unterschenkeln amputierte Sportler das Fotomodell in Rage tötete. Fast beiläufig erwähnt die Richterin, dass Pistorius zusätzlich zu der Tat auch wegen des fahrlässigen Gebrauchs einer Waffe in zwei Fällen und der Benutzung illegaler Munition angeklagt ist. In allen Fällen sind bis zu fünf Jahren Haft möglich. 

Die Richterin legt Tempo vor

Die erste Überraschung liegt darin, dass die Richterin ein enormes Tempo einschlägt und binnen weniger Minuten die Aussagen einiger  Zeugen zusammenfasst, die in der Todesnacht Schreie aus dem Haus des Sportlers gehört haben. Andere werden gänzlich übergangen. Die Aussagen, deren Anhörung  im Prozess mehrere Tage dauerten und in den Medien für enormen Wirbel sorgten, wird von Masipa binnen weniger Minuten brüsk vom Tisch gewischt: Nach Meinung der Richterin haben die meisten Belastungszeugen die Geräusche falsch interpretiert. Verantwortlich sei zum einen die extensive Berichterstattung der Medien, die Zeugen unbewusst zu Fehlschlüssen verleitet hätte. Zum anderen sei auch die eingeschränkte menschliche Wahrnehmungsfähigkeit  am frühen Morgen bei der Wahrheitsfindung wenig hilfreich gewesen.

Statt dessen folgt Masipa bereits jetzt der Argumentation der Verteidigung und rückt „objektive Beweise“, wie sie es nennt, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung:  Anruf- und Ankunftszeiten wie das Eintreffen der Ärzte, Nachbarn und Freunde  aber auch des  lokalen Sicherheitsdienstes sowie der  Polizei.  „Sie ist eine starke Richterin und hat sich offenbar klar für eine Version der Dinge entscheiden“ lobt der südafrikanische Richter William Heath anerkennend in einem Zwischeninterview  der BBC.

Vor allem die "Timeline", also die genaue zeitliche Abfolge des Tathergangs, spielt für die Richterin bei der Urteilsbewertung eine entscheidende Rolle. Sie zeigt nach ihrer Einschätzung besonders deutlich, wann sich die Zeugen bei ihren Angaben widersprachen. Auch die unterschiedlichen Handy-Nachrichten, die das Paar im Verlauf ihrer rund dreimonatigen Beziehung  austauschten und die in der medialen Berichterstattung eine enorme Rolle spielten und Pistorius angeblich als selbstsüchtig und dominant entlarven, werden von der Richterin schnell verworfen: Beziehungen seien wechselhaft und kein guter Hinweis darauf, was in der Tatnacht wirklich geschah.

Unerwartete Wendung

Kurz vor der Mittagspause dann die eigentliche Sensation: Nachdem die Richterin im Detail die vier Schüsse von Pistorius auf die kleine Toilettentür neben seinem Schlafzimmer gewogen hat, hinter der sich seine Freundin angeblich ohne sein Wissen verbarrikadiert hatte, spricht sie den Sportler  zunächst vom vorsätzlichen Mordvorsatz frei - und schließt wenig später auch einen "Mord ohne Vorsatz", den es in der deutschen Rechtssprechung so eigentlich nicht gibt, rundum aus. In einem solchen Fall  tötet der Täter absichtlich aber ohne vorherige Planung. Genau diese Tatvariante hatten die allermeisten Beobachter in ihren Analysen im Vorfeld des Urteils als die wahrscheinlichste erwartet - und mit ihr zwischen zehn und 15 Jahr Haft. 

Heult Rotz und Wasser. Oscar Pistorius während der Urteilsverkündung.
Heult Rotz und Wasser. Oscar Pistorius während der Urteilsverkündung.

© dpa

Für die meisten Rechtsexperten ist das Urteil schon zu diesem Zeitpunkt eher unerwartet: Sicher ist schon jetzt, dass Pistorius das Gericht auf keinen Fall als verurteilter Mörder verlassen wird, obwohl er vier Schüsse mit einer besonders gefährlichen Munition  auf eine kleine Fläche abfeuerte. "Die Schuld ist nicht ausreichend bewiesen, es gibt nur Indizien", erklärt Masipa die Logik hinter ihrer Entscheidung. Zuvor hatte die Richterin erneut erklärt, dass die Aussagen verschiedener Zeugen der Anklage nicht verlässlich gewesen seien.

Es ist der Moment, in dem praktisch die gesamte Anklage in sich zusammenbricht – und in dem Pistorius wohl aus Erleichterung hemmungslos weint. Vielleicht kann er das Gehörte selbst nicht fassen. Er heulte buchstäblich Rotz und Wasser. Was Staatsanwalt Gerrie Nel über Monate mühselig zusammengetragen hat und von den Medien monatelang auf seine Relevanz minutiös untersucht und debattiert wurde, wischt die  Richterin in wenigen Minuten vom Tisch.  Daran ändert auch nichts, dass sie Pistorius gleichzeitig als einen "schwachen Zeugen" bezeichnet, der immer wieder ausweichend geantwortet und oft mehr an die Folgen seiner Aussagen als die Wahrheit gedacht habe.

Paralympics-Star Oscar Pistorius erwartet sein Urteil.
Paralympics-Star Oscar Pistorius erwartet sein Urteil.

© AFP

Mit dem Zusammenbruch der Mordanklage kann Pistorius jetzt nur noch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt werden – und daran wird nach Stand der Dinge auch kein Weg vorbeiführen wie fast alle Experten meinen. Ehe Masipa den Prozess nämlich völlig überraschend nur knapp 30 Minuten nach der Mittagspause auf Freitag vertagt, stellt sie noch eine entscheidende Frage - und verneint diese sogleich: Hätte eine vernünftig handelnde Person mit den gleichen Ängsten und der gleichen Behinderung wie Pistorius in der Tatnacht genauso wie er gehandelt - und vier Schüsse auf eine Tür abgefeuert, hinter der sich eine Person befand? Hier ist ihre Einschätzung genauso eindeutig wie bei der Zurückweisung des Mordvorwurfs: Pistorius habe zu hastig gehandelt und übermäßige Gewalt angewendet.

Warum die Richterin  den Prozess jedoch an dieser alles entscheidenden Stelle vertagt, ohne das nun fällige Urteil zu fällen, bleibt ihr Geheimnis. Es ist eine höchst ungewöhnliche Entscheidung. Die Unsicherheit ist auch deshalb groß, weil das Strafmaß bei Totschlag im Ermessen des Gerichts steht; es gibt keine Mindeststrafe. Allerdings sind fünf bis zehn Jahre Haft in einem solchen Fall nicht ungewöhnlich – eine Strafe die viele Beobachter vor der Urteilsverkündung noch als absolutes Minimum für das betrachtet hatten, was sich am Valentinstag vor einem Jahr in der Villa von Oscar Pistorius abspielte.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false