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Kinder-Reha: Wo der Zappelphilipp Kind sein kann

Kinder- und Jugendliche mit ADHS oder Adipositas stehen oft im Abseits, denn sie sind anders als die Anderen. In der Kinder- und Jugendrehabilitation schöpfen sie Selbstbewusstsein aus Selbstkontrolle und lernen, sich zu konzentrieren

„Wenn mein Lehrer mich anmotzt, motze ich halt zurück“, sagt der zehnjährige Marco. Neben dem Jungen mit dem kurz geschorenen blonden Haar sitzt Anja (beide Namen geändert). Das blonde Mädchen ist neun Jahre alt. Sie wirkt blass. Ihr Blick wandert unablässig durch den Raum: zum Bücherregal, zum Hund, zum Aquarium. Sie kann nicht still sitzen, ihre Beine zappeln unablässig. Anja und Marco haben ein Aufmerksamkeitsdefizit mit einer Hyperaktivitätsstörung – kurz ADHS.

Gemeinsam mit rund 100 anderen Kindern verbringen sie deshalb vier bis sechs Wochen in der AHG Klinik für Kinder und Jugendliche Beelitz-Heilstätten. Viele der jungen Rehabilitanden hier haben es zu Hause nicht leicht: Neben Kindern wie Anja und Marco therapiert die Einrichtung rund 20 Kilometer von Potsdam entfernt auch Adipositas, also Fettleibigkeit, und Bettnässer.

Anja und Marco haben es sich auf der Couch der Chefärztin gemütlich gemacht. Über den beiden hängt ein großformatiges Foto. Auf ihm ist eine Wiese zu sehen, schier endlos erstreckt sich ihr sattes Grün. Ein Holzzaun trennt die Weite in zwei Hälften. Dicht an ihn gedrängt steht ein weiß gestrichenes Fußballtor. „Ziele & Grenzen“ steht mit Bleistift unter das Bild geschrieben. „Das Foto verdeutlicht, worum es in dieser Reha geht“, sagt Maike Pellarin. Sie ist die Chefärztin der Rehaklinik. Denn viele Kinder hier hätten nie gelernt, Regeln zu akzeptieren und ein Ziel zu verfolgen.

Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizit (ADS) oder einer noch zusätzlichen Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fällt es schwer, sich zu konzentrieren, einige werden auch schnell aggressiv. „Hören Sie das Rauschen der Blätter?“, fragt Maike Pellarin. „Nein. Sie blenden das aus, weil es gerade nicht wichtig ist. Menschen mit ADS und ADHS jedoch fehlt dieser Filter, wichtige Reize von unwichtigen zu trennen.“

Das hat organische Ursachen im Mittelhirn: Das schüttet permanent Dopamin aus, das als Botenstoff dient und eine wichtige Rolle bei der Aufmerksamkeitssteuerung spielt. Dadurch prasselt eine Reizflut auf den Betroffenen ein und es fällt ihm schwer, sich auf die wesentlichen Informationen zu konzentrieren.

Spätestens ab der Einschulung haben es Kinder wie Anja und Marco dann nicht leicht. Sie lernen schlechter als ihre Mitschüler und ecken öfter beim Lehrer an. Die Kinder sind schlecht integriert, weil der Umgang mit ihnen schwierig ist. „Zählen Sie mal die Kindergeburtstage, zu denen Ihr Kind eingeladen wurde“, sagt Pellarin. „Je öfter das Kind bei anderen eingeladen wird, desto besser ist es offenbar integriert.“

Wird der Leidensdruck zu groß, kann der Wirkstoff Methylphenidat den Betroffenen helfen. Diese Substanz senkt den Dopaminspiegel im Hirn und das Kind kann sich besser konzentrieren. „Das Gehirn eines ADS-Patienten ist wie ein Orchester ohne Dirigent“, sagt Pellarin. Methylphenidat gebe den Takt vor.

Anja fällt der Schulalltag leichter, seitdem sie das Medikament nimmt. „Wenn mir einer blöd kommt, dann geht das zu einem Ohr rein und zum anderen wieder raus“, sagt sie. Doch das Mittel wirkt nicht bei allen und hat auch einen großen Nachteil: Es hemmt den Appetit. Anja wiegt 27 Kilo auf 140 Zentimeter – zu wenig für ihr Alter.

Deshalb müsse der Einsatz von Methylphenidat immer wieder geprüft und in den Ferien auch mal eine Pause eingelegt werden, sagt die Chefärztin. Wichtiger noch: Das Medikament sei nicht dafür gedacht, versäumte Erziehungsarbeit zu kompensieren. Denn Kinder mit einem Aufmerksamkeitsdefizit bräuchten feste Strukturen und klare Regeln.

Das Phänomen des ADHS ist übrigens keineswegs neu: Bereits 1844 erzählte der Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann im Struwwelpeter die Geschichte des „Zappelphilipp“ – eines unkonzentrierten und aufgedrehten Jungen, dessen Eltern hin- und hergerissen sind zwischen resigniertem Zuschauen und autoritärer Erziehung und des Kindes nicht Herr werden konnten. Diese Geschichte gab der Krankheit auch ihren Beinamen „Zappelphilipp-Syndrom“.

In der Rehaklinik Beelitz-Heilstätten lernen die Kinder und Jugendlichen, Regeln zu akzeptieren und Ziele zu verfolgen. Zum Beispiel in der Sporttherapie: Sich an der Klettermauer entlangzuhangeln ist eine Herausforderung, die Durchhaltevermögen verlangt. Möchte man am anderen Ende ankommen, gibt es einiges zu beachten. Besonders die großen Jungs greifen gern mit der Hand über die Wandkante hinaus, doch das ist Schummelei. Drei der vier Extremitäten sind immer an der Wand, nur ein Bein oder Arm tastet nach dem nächsten Halt. Vor allem: Becken an die Wand, sonst geht dem Kletternden wegen der ungünstigen Hebelwirkung schnell die Puste aus und der Sturz ist gewiss.

Für einige der jungen Rehabilitanden ist diese Übung im wahrsten Sinne besonders schwer: Kinder und Jugendliche mit Adipositas. Auf ihrem Programmzettel hier in der Klinik steht nicht nur Sport, Gymnastik und Aquafitness, sondern auch Gesprächstherapie. Denn oft ist ihr Selbstbewusstsein von den Erlebnissen zu Hause und in der Schule sehr gebeutelt. Wie der Zappelphilipp sind auch sie anders als ihre Schulfreunde und werden deshalb oft gehänselt. Deshalb sprechen sie gemeinsam in der Gruppe mit Gleichaltrigen über ihren Frust.

Auch die Chefärztin ist mit dabei. Aber Maike Pellarin erzählt nicht viel, sondern lenkt mit Fragen die Diskussion und hört vor allem zu. Die Geschichten, die die Jungs erzählen, drehen sich um Langeweile, Heißhunger und um mangelnde Selbstkontrolle. „Wenn ich Döner im Kopf habe, kann ich einfach an nichts anderes denken“, sagt einer von ihnen. Wie kann man das vermeiden, fragt Pellarin. „Einfach keinen Döner essen“, ruft einer der Jungs aus der Ecke in die Runde – alle lachen, auch die Therapeutin. Richtig klar ist es bis jetzt keinem der Jungs, wie sie ihr Übergewicht in den Griff bekommen. Heute werden sie das Problem auch nicht lösen, dazu braucht es Zeit. Doch klar ist eines: Vielen von ihnen fehlt eine Struktur im Alltag, besonders regelmäßige Mahlzeiten. „In der Schule esse ich nicht, da gibt es laufend Schwein und außerdem schmeckt es nicht.“ Der Junge geht auf eine Ganztagsschule und ist Moslem. „Wenn ich dann nach Hause kam, habe ich oft eine ganze Lasagne gegessen, mindestens.“ Nur selten hat er sich von zu Hause etwas zu essen in die Schule mitgenommen. Das will er jetzt ändern.

Und dann ist da noch der Teufelskreis aus Frustessen und Übergewicht. Weil sie übergewichtig sind, werden sie gehänselt. Weil sie gehänselt werden, essen sie zum Trost gern einen Bissen mehr.

Auch bei diesem Mechanismus ist wieder ein alter Bekannter am Werk, das Dopamin. Ist Essen mit positiven Gefühlen verknüpft, wird der Botenstoff nach einem genüsslichen Mahl ausgeschüttet – so belohnen sich die Außenseiter selbst.

Doch Nahrungsmittel sind ihnen auch auf eine Art fremd. „Die Jüngeren denken nicht selten, dass die Tomate in der Dose wächst“, sagt eine Ernährungsberaterin der Rehaklinik. Deshalb bereiten sie in der Lehrküche gemeinsam Salat und Pasta zu. So lernen sie das kennen, was sie sonst bestenfalls fertig zubereitet auf dem Teller sehenZU POLEMISCH]. Auch den Älteren muss dabei oft erst gezeigt werden, wie man einen Gemüseschäler hält oder wie lange Nudeln kochen.

/ZU POLEMISCH]Szenenwechsel: Die Ergotherapie der Rehaklinik strotzt nur so vor Knete, Farben und Sägen. „Wir haben hier auch schon aus einem Baum ein Boot gebaut“, sagt der Ergotherapeut Stephan Weyres. Das schult nicht nur Motorik und Miteinander, sondern macht auch Spaß. „Hier können die Kids mal richtig die Sau rauslassen“, sagt der kräftige Mann mit rasierter Glatze. Gerade beginnt er die Maltherapie. „Schließt die Augen und stellt euch ein Bild vor“, sagt er zu seinen Schützlingen. Das ist nicht einfach. „Psst!“, zischt der Ergotherapeut mit vor dem Mund gehaltenem Finger. Langsam wird es still in dem Raum. „Und nun malt das Bild in eurem Kopf“, sagt er nach einer Weile. Die Kinder beginnen zu malen. Doch auf dem Tisch liegen keine Pinsel. Sie tauchen ihre Finger in die aus den Tuben gequetschte Farbe und malen alle gemeinsam auf einem riesigen Blatt Papier – Palmen und Regenbögen und viel Buntes. Das übt den Tastsinn und die Konzentration. „Wenn es gut läuft, malen sie alle zusammen“, sagt der Therapeut. Das funktioniere sogar bei 18-Jährigen.

Anfangs machten die Jungs aus dem Wedding oft den Max. „Wenn die Grenze überschritten wird, sage ich ihnen wo es langgeht“, sagt der Ergotherapeut. „Das war’s dann aber auch, danach sind wir wieder Freunde.“

Doch bei all den Regeln gehe es hier auch darum, Grenzen bewusst zu überschreiten „und einfach mal Kind zu sein.“

THEMA

KINDERREHA



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