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Kevin

© - Foto: ddp

Kindesmisshandlung: "Jede Woche drei tote Kinder“

Vor einem Jahr starb der kleine Kevin, weil die Behörden versagt haben – geändert hat sich seither kaum etwas.

Kevin. Der Name des Bremer Kindes gilt seit Oktober vergangenen Jahres als Symbol für das Versagen des deutschen Kinder- und Jugendsystems. Die Behörden kannten die Familiensituation des Jungen, doch sie kümmerten sich zu spät. Nachdem der Zweijährige tot im Kühlschrank seines drogensüchtigen Ziehvaters aufgefunden wurde, reagierte die Politik. Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) veranlasste damals ein „Gesetz zur Förderung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, die zuständige Sozialsenatorin des Landes Bremen, Karin Röpke (SPD), trat zurück. Am 24. Oktober wird dem Ziehvater der Prozess gemacht. Der Fall Kevin schien eine Wende im Jugendhilfesystem zu bewirken.

Ein Jahr danach zog die Deutsche Kinderhilfe Direkt (DKHD) am Dienstag in Bielefeld eine Bilanz der politischen Maßnahmen. „Der dringend erforderliche Umbau des Jugendhilfesystems ist unterblieben“, so Georg Ehrmann, Vorsitzender der DKHD. Nach einer Auswertung aktueller Kriminalstatistiken sterben laut Ehrmann noch immer mehr als „drei Kinder pro Woche an den Folgen von Gewalt und Misshandlung“. Rund 100 000 seien täglich in Gefahr, so Klaus Hurrelmann, Soziologe an der Uni Bielefeld.

„Diese Zahlen entsprechen nicht den verfügbaren statistischen Daten“, sagte hingegen ein Sprecher des Familienministeriums dem Tagesspiegel. Dies entspräche einer Zahl von jährlich mehr als 170 Kindern – die aktuellsten verfügbaren Daten aus dem Jahr 2006 führten jedoch höchstens 22 Todesfälle auf. Klar sei aber: Jedes Kind, das misshandelt werde, sei eines zu viel, sagte der Sprecher.

Für Georg Ehrmann sind die Zahlen des Ministeriums ein weiteres Zeichen der Verharmlosung des Problems. Die Zahlen des DKHD basierten auf Kriminalstatistiken des Bundes Deutscher Kriminalbeamten. „Sie sind valide“, so Ehrmann. So sei beispielsweise auch aufgeführt, wenn eine überforderte Mutter ihr Kind nach der Geburt umbringt. Das Familienministerium zähle diese Fälle nicht mit.

Das „Gesetz zur Förderung familiengerichtlicher Maßnahmen“ gehe zwar in die richtige Richtung, so der DKHD-Vorsitzende. Jedoch mangele es an der Umsetzung. So stärke das geplante Gesetz, zwar die Eingriffsmöglichkeit der Familiengerichte, wenn es um vernachlässigte Kinder geht, diese seien jedoch überfordert mit den neu gestellten Aufgaben. Aus seiner Sicht ist es nun an den einzelnen Ländern, erforderliche Reformen anzustoßen, um den Mangel an qualifiziertem Personal in den zuständigen Gerichten aufzufangen.

Gefragt nach den anvisierten Plänen, die Misshandlung von Kindern zu stoppen, heißt es aus dem Familienministerium man werde „gemeinsam mit Ländern und Kommunen soziale Frühwarnsysteme und ein Netz früher Hilfen aufbauen“. Für DKHD-Vorsitzenden Ehrmann unverständlich. Dass die politische Diskussion sich noch immer um sogenannte „Frühwarnsysteme“drehe, sei falsch. Die hilfsbedürftigen Kinder seien bei den Jugendämtern ausreichend bekannt. Viel entscheidender sei die Frage, wie ihnen geholfen werden könne. Hamburg etwa habe dazu einen „vorbildlichen“ Katalog vorgelegt, in Berlin fehle ein solcher . „Wir brauchen ein Frühhilfesystem, kein Frühwarnsystem“, so Ehrmann.

Ein weiteres Manko aus der Sicht des DKHD-Vorsitzenden: der fehlende Mut der Politiker, die Probleme beim Namen zu nennen. Gewalt, Misshandlung und Verwahrlosung in Familien sei untrennbar mit dem Thema Kinderarmut verbunden, das müsse die Politik auszusprechen wagen. „Nahezu alle Fälle schwerer Misshandlung und Verwahrlosung finden in der ungern benannten Unterschicht statt“.

Tim Klimeš

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