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Kirche

© Caro / Kaiser

Kirche: Missbrauch: Ihre Glaubensfragen

Er hat sie getauft, getraut, ihre Toten beerdigt, ihre Beichten gehört. 21 Jahre lang war Peter H. Pfarrer in ihrem Ort, in Garching, Bayern. Und nun diese Vorwürfe. H. soll Kinder missbraucht haben. Eine Gemeinde sucht Antworten.

Die nüchterne Hallenkirche aus den 50er Jahren ist voll. Nicht nur die Kirchenbänke sind besetzt, auch die Stühle am Rande und die Empore. Mehr als 300 Menschen sind gekommen. Hier in Oberbayern, in Garching an der Alz, in der Nähe von Altötting, hier, wo Papst Benedikt XVI. groß geworden ist, „Traumland meiner Kindheit“, nennt er die Gegend. Katholische Feste und der sonntägliche Kirchgang gehören hier zum Leben wie Schweinebraten und Starkbier.

Doch nun verändert sich etwas. Seit sieben Wochen werden fast täglich neue Fälle von Missbrauch in der katholischen Kirche bekannt, es gab sie im bayerischen Internat Ettal und bei den Regensburger Domspatzen und nun auch in Garching, es geht um Pfarrer H., und das tangiert auch die Münchner Bischofszeit von Joseph Ratzinger. Und spätestens jetzt ist klar: Die größte Krise der katholischen Kirche ist angekommen im Kernland des Katholischen.

Der Mann, der heute Papst ist, hat 1980 mitentschieden, dass ein gewisser Kaplan H. aus Essen nach München kommen darf, um eine Psychotherapie zu absolvieren, nachdem er sich im Ruhrgebiet an Kindern vergangen hatte.

„Über unsere Kirche ist eine große Dunkelheit gekommen und große Schuld“, predigt der junge Pfarrer Georg Eckl vorne am Altar in der Herz Jesu Kirche in Garching an der Alz. Es ist Sonntag, kurz nach zehn Uhr. Ein paar Tage zuvor hatte ihn das Ordinariat in München vorgewarnt, dass wohl die Medien in Kürze über die Geschichte seines Vorgängers schreiben würden.

Welche Geschichte?

Schon kurz nachdem Pfarrer H. seine Therapie in München angefangen hatte, wurde er auch wieder in einer Gemeinde als Seelsorger eingesetzt. Der damalige Münchner Generalvikar hatte dies so verfügt und dafür jetzt die „volle Verantwortung“ übernommen. H. verging sich erneut an Kindern und wurde 1986 zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Ein Jahr später versetzte ihn das Bistum nach Garching, wo er 21 Jahre lang blieb. Er taufte die Menschen in der Gemeinde, er traute sie, er beerdigte ihre Toten und hörte ihre Beichten. Er war beliebt. Dann ließ 2008 der heutige Münchner Bischof Reinhard Marx erneut ein forensisches Gutachten über H. erstellen, Inhalt geheim natürlich, aber als es vorlag, wurde H. versetzt – nach Bad Tölz in die Tourismusseelsorge.

Auch hier kam er gut an. Seine Gottesdienste seien so gut besucht gewesen wie kaum andere, sagen sie in Bad Tölz. Und dass nun wegen der Berichte viele nachfragen. Einheimische vor allem. „Sie bringen die Berichte nicht mit der Person zusammen, die sie kennengelernt haben“, sagt ein Mitarbeiter.

Wieder dieses Wie-kann-das-sein. Diese Risse, dieses Wanken. Gewissheiten, auch dafür stehen Glaube und Kirche. Doch die Zeit der Gewissheiten scheint vorbei. Überall nur noch Fragen.

Morgen findet in Bad Tölz eine Konferenz der Seelsorger statt, zu der auch jemand aus München kommt. Es soll beschlossen werden, wie mit dem Fall Peter H. umgegangen wird.

Wie umgehen mit dem Unglaublichen, das fragte sich in Garching auch Pfarrer Georg Eckl, 37, der Nachfolger von H. „Was soll ich tun? Wie mit den Gemeindemitgliedern sprechen?“ Trösten? Warnen? Verurteilen?

Im Abendgottesdienst am Samstag dann hat er die Pressemitteilung verlesen, die seit Freitag auf der Internetseite des Bistums steht und alle bislang bekannten Details zum Fall auflistet und die Entscheidung, den Pfarrer wieder in der Seelsorge einzusetzen, als „schweren Fehler“ verurteilt. Alle hörten stumm und entsetzt zu. „Wie eine Kreuzigung“ sei das gewesen, sagt Eckl. Ihm war unwohl danach. Am Sonntag entscheidet er sich für einen anderen Weg. „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, predigt er nun und erzählt die Geschichte vom verlorenen Sohn. Es ist der für den Sonntag vorgegebene Predigttext. Er passt. Pfarrer Eckl entschuldigt sich „bei allen Opfern von Missbrauch und Gewalt“. Stille. Die große Glocke läutet.

Eckl ist verunsichert: „Darf ich einem Kind überhaupt noch über den Kopf streichen? Was ist, wenn sich ein Kind im Kindergarten auf meinen Schoß setzt?“

Der ganze Pfarrersstand steht nun unter Verdacht. Und sind nicht an diesem Sonntag schon viel weniger Gläubige in die Kirche gekommen als sonst?

Nach dem Gottesdienst gibt es im Gemeindesaal „Fastensuppe“. Vielleicht hundert Menschen löffeln selbstgekochte Suppe und reden über Pfarrer H. Als er vor eineinhalb Jahren gehen musste, hatten sie ans Bistum geschrieben und gebeten, dass er bleiben dürfe. Nach seinem Abschiedsgottesdienst gab es Tränen. H. war ein „Pfarrer zum Anfassen“, einer mit Ausstrahlung, der gut mit Jugendlichen konnte. Im Flur im Gemeindehaus hängen zwei Fotos, die den rundlichen Pfarrer inmitten von dutzenden Ministranten zeigen.

„Unser Herr Pfarrer ein Kinderschänder?“ Eine Frau in den Fünfzigern, seit vielen Jahren im Pfarrgemeinderat, will es nicht glauben. Ihre beiden Söhne seien zehn Jahre Messdiener bei ihm gewesen. „Soll ich die jetzt fragen, ob da was war?“, sagt sie. Andererseits: Will sie mit der Ungewissheit leben? Es müsse nun alles aufgeklärt werden, klar. Aber was bedeutet das für die eigene Geschichte? Wie umgehen mit der neuen Unsicherheit?

„Hätte man den H. nicht einfach noch drei Jahre in Ruhe lassen können?“, fragt dagegen ein älterer Mann. Dann wäre H. in den Ruhestand gegangen. Diese ganze Geschichte macht ihn wütend. Sein Gesicht ist gerötet. „Seine Verfehlungen liegen über 20 Jahre zurück, er ist verurteilt worden, damit ist es doch gut.“ Der Pfarrverband Garching stehe heute super da, 5000 Mitglieder. Das hätten sie nicht geschafft ohne den Pfarrer H. Die Presse bausche auf, schreibe nur Negatives, wolle die Kirche kaputt machen. „Das Vertrauen, das jetzt kaputtgeht“, sagt er noch, „das lässt sich nicht mehr so schnell wiederherstellen, das wird auch die säkulare Gesellschaft noch bereuen.“

Eine andere Frau sagt, dass es ja nicht so gewesen sei, dass keiner was gewusst habe. Dass Pfarrer H. 1986 zu ihnen strafversetzt wurde, sei bekannt gewesen. Auch gab es immer Gerüchte, dass das mit Missbrauch zu tun hatte. An der Kirche habe es Schmierereien gegeben, die darauf angespielt hätten. Eine Frau habe den Pfarrer H. ganz konkret gefragt, ob er was mit Kindern gehabt habe, ob er verurteilt worden sei. Das habe H. abgestritten. Sie lebe schon lange mit der Ambivalenz, dass sie gerne in die Gottesdienste gehe, der Glaube ihr viel bedeutet und dass es trotzdem Pfarrer gibt, die sich an die Dinge nicht halten, die sie predigen.

Während in Garching Suppe gegessen wurde, kam es 150 Kilometer weiter in Bad Tölz zu Tumulten im Gottesdienst. Als dort ein Pfarrer H.s Verfehlungen ansprach sprang ein Mann auf, sagte, dass er das nicht hören könne, andere riefen „Halt den Mund“, einige gingen.

Am Montag ist von den katholischen Pfarrern in Bad Tölz keiner zu erreichen. Selbst die Notrufnummer für Sterbefälle ist abgeschaltet. Das Bistum erklärt, dass Pfarrer H. vom Dienst suspendiert wurde, weil er sich in Bad Tölz nicht an die Auflage gehalten hat, keine Kinder- und Jugendarbeit mehr zu machen. Hinweise auf Missbrauch nach 1986 würden weiterhin nicht vorliegen.

In München tritt am Montagnachmittag der Personalchef des Bistums zurück. Prälat Josef Obermaier gesteht „gravierende Fehler in der Wahrnehmung seiner Dienstaufsicht“ ein.

Der Papst kündigt an, er werde sich „bald“ äußern zu den Missbrauchsfällen und „klare Maßnahmen zur Aufarbeitung vorgeben. In einem Brief an die irischen Bischöfe, die Anfang des Jahres tausendfachen Missbrauch in ihren Diözesen eingestehen mussten. Die Nachrichten aus Deutschland sollen in das Schreiben „einfließen“, heißt es im Vatikan.

Die Zeit der Unsicherheit wird so schnell nicht vorübergehen.

Mitarbeit Katja Reimann

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