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Panorama: Kunst statt Kohle

Die Nachbarstädte Newcastle und Gateshead erfinden sich neu – gemeinsam als Kulturmetropole

Groß, schön und kurvenreich. So mögen es die Männer am Tyne-Fluss im Nordosten Englands. Wie eine Made, aus der ein Schmetterling schlüfen soll – so beschreiben manche den Neubau. Am Wochenende zogen 15000 Menschen durch die größte, glitzerndste und neueste Konzert- und Kunsthalle Englands und testeten den Flanierweg unter dem Glasdach, das drei Konzertsäle beherbergt. Der Saal für 1700 Personen soll die beste Konzertakustik in Europa haben. Zum Test spielten das Hausorchester, die „Northern Sinfonia“, Dudelsackbläser und die ehemalige Bergarbeiterkapelle. Denn das Musikzentrum ist für alle da: „Ein neues Wohnzimmer für Newcastle-Gateshead“, erklärte Stararchitekt Norman Foster.

„The Sage“, benannt nach der Softwarefirma, die heute zu den größten Arbeitgebern am Tyne River gehört und den neuen Bau als Sponor fördert, ist der jüngste Beweis für die furiose Wiedergeburt der nordenglischen Kohlenstädte Newcastle und Gateshead, die sich seit Jahrhunderten am Tyne-Fluss gegenüberliegen, aber erst in letzter Zeit gemeinsame Sache machen. Vor zwanzig Jahren, als Margaret Thatcher den Bergarbeitern und damit den englischen Kohlerevieren den Kampf ansagte, lag die Stadt auf den Knien. 1950 arbeiteten in den 182 Bergwerken der Region über 150000 Menschen – heute gibt es noch ein einziges Bergwerk, mit 360 Beschäftigten. Auch für den Schiffbau, der die zweite groß Einnahmequelle von Newcastle war, hatte Thatcher bekanntlich nicht viel übrig. Die Arbeitslosigkeit kletterte auf über 55 Prozent.

Gerade hat das amerikanische „Newsweek“-Magazin Newcastle-Gateshead zu einer der acht kreativsten Städte der Welt ausgerufen – zusammen mit Kabul, Tijuana, Marseille, Kapstadt und anderen. Nun geht man an der Tyne wieder mit erhobenem Haupt. Da wollte das „Time Magazine“ nicht zurückstehen und kürte Newcastle zu einer „heimlichen Hauptstadt“ Europas.

Billiges Bier, billige Lofts für Studios und eine gelassenere und kommunikativere Lebensart locken die Kreativen an, behauptet „Newsweek“. Künstler und Bürger hoffen, dass das noch eine Weile so bleibt. „Wir haben gerade unser erstes Appartement für über eine Million Pfund verkauft“, berichtet Fremdenführerin Jan Williams stolz. Nun rätselt man, ob der Käufer etwa Popstar Sting ist oder vielleicht „Roxy Music“-Frontmann Brian Ferry – beide sind „Jordies“, wie sich die Menschen aus der alten Kohlenstadt stolz nennen. „Es stimmt. Immer mehr Künstler ziehen nach Newcastle“, behauptet Andrew Dixon, der als Chef des Arts Councils 47 Millionen Pfund, mehr als die Hälfte, für den Bau des „Sage“ beigesteuert hat.

Dixon hat in den letzten Jahren auch für andere Kulturwunder der ehemaligen Bergarbeiterstadt tief in die Tasche gegriffen: Den „Angel of the North“, die 20 Meter Skulptur des Briten Anthony Gormley, die auf einer ehemaligen Kohlegrube errichtet wurde und „von 33 Millionen Menschen gesehen wird“ – weil sie genau an der Autobahn steht. Der Angel ist das Symbol der Wiedergeburt dieser alten Industrieregion geworden.

Fürs Jahr 2000 gönnte sich Gateshead auch schon Großbritanniens „schönste neue Brücke“, die Millennium Bridge, die nach Newcastle hinüberführt – obwohl Newcastle keinen Penny beigesteuert hat. Dann wurde in ein ehemaliges Getreidesilo das Kunstzentrum „Baltic“ eingebaut. Alles, obwohl sich die Menschen der einst von Industrieabfällen und dem stinkenden Tyne River verseuchten Zwillingsstadt bis heute mehr für Newcastle United und Mannschaftskapitän Shearer als für Kultur interessieren. Aber Kultur, behauptet Gatesheads Stadtrats-Chef Mick Henry, „hat erst das physische Gesicht unserer Stadt verändert. Nun erblüht durch sie unsere Wirtschaft.“ Denn Kultur und Kunst würden die Menschen unvoreingenommen und flexibel machen – und zeigen, wie man mit Risikobereitschaft und neuen Denkweisen weiterkommt. So wird Kultur zum Wegbereiter für die neue Unternehmerkultur: Kleinunternehmen, Selbstständige, Dienstleister sind jetzt das Fundament der regionalen Wirtschaft.

Für John, der sich im „Black Garter“- Pub im viktorianischen Stadtzentrum das Pferderennen im Fernsehen ansieht, geht das alles ein bisschen zu schnell. „Lass sie machen“, sagt er, „schaden kann es nicht“. Er gehört zu den Tausenden Arbeitern, für die der neue Boom zu spät kommt. Viele leben von Invalidenrenten, weil ihre Lungen von Kohlestraub zerstört wurden. Auf Newcastles Grey Street für die jungen Leute beginnt in dem dichten Netzwerk von Pubs und Restaurants gerade das Nachtleben. „Abend für Abend ist es hier wie auf den Straßen Sevillas“, sagt stolz ein junger Mann. Über 40000 Studenten haben die zwei Universitäten der Stadt. „Dies ist unser Kapital“, sagt Stadtrat Mick Henry.

Matthias Thibaut

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