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Titelverteidigerin Lena Meyer-Landrut will beim diesjährigen Grand-Prix vor allem aber Spaß haben, sagt sie. Im Vorjahr gab es 246 Punkte. Kann sie das wiederholen?

© EBU

Lena Meyer-Landrut: Fremd im eigenen Schland

In einem Jahr wurde aus Lena Meyer-Landrut erst unsere Lena und schließlich Lena. Sie ist der Star des Eurovision Song Contests von Düsseldorf. Das merkt man in der Woche vor dem Finale am Samstag an der Ehrfurcht ihrer Konkurrenten und daran, dass Lena meistens fehlt.

Das könnte jetzt der Moment von Marats Ogleznevs und Emils Balceris werden. Ihre roten Fliegen sitzen ganz eng am Hals, das sieht lustig aus, und die vielen Kamerateams und Fotografen vor der Bühne könnten den Auftritt der Letten wunderbar für die Nachwelt festhalten. Wenn wenigstens ein Einziger in ihre Richtung sehen würde. Tut aber keiner. Denn Lena Meyer-Landrut hat gerade eben, ganz kurz, rechts an der Wand in dem abgesperrten Bereich hinter dem Edelstahlgeländer, ihre Lippen bewegt, als würde sie mitsingen.

Wer wissen will, wie viel Spaß das wirklich macht, so eine Titelverteidigungswoche in Düsseldorf, der muss sich ein gelbes Bändchen besorgen, um Montagabend in die Rudas Studios zu gelangen, den schicken Club im Medienhafen, dort, wo die Werber sitzen und die anderen Kreativen der Stadt. Es wollten wirklich viele so ein gelbes Bändchen, sagt die Frau vom NDR, die sie vergeben durfte. Normalerweise finden in den Rudas Studios Afterworkpartys statt für Leute, die es zwischen Feierabend und Abendbrot kurz mal richtig krachen lassen wollen. Doch heute hat die deutsche Eurovision-Delegation geladen, und zwar alle Künstler aus den Ländern, die Lena Meyer-Landrut letztes Jahr in Oslo zwölf Punkte geschenkt haben. Ein Dankeschön sollte es werden und eine wilde Party, aber jetzt ist es bloß ein wildes Blitzlichtgewitter, und die Gastgeberin sieht aus wie eine Gejagte.

Ein Jahr hat es nur gedauert, bis aus Lena Meyer-Landrut unsere Lena und schließlich Lena geworden ist. Und Getta Jaani darf Lena jetzt umarmen. Die Sicherheitsleute lassen sie rauf auf die kleine Plattform, auf der Lena mit Entourage auf lederbezogenen Stoffwürfeln hockt. Getta Jaani tritt am Samstag für Estland an, sie ist 18, wie Lena damals in Oslo, sie hat schwarze Haare, und ihr Lied wird in Düsseldorf zu den Favoriten gezählt, weil es so erfrischend poppig klingt. Sie drückt der Deutschen ihre CD in die Hand, vielleicht finde sie Zeit zum Reinhören, und Lena dankt und sagt, man sehe sich ja sowieso am Samstag im Finale wieder. Als Getta Jaani danach im Vorraum des Clubs neben ihrem Manager steht, strahlt sie übers ganze Gesicht. Lena sei awesome, sagt sie. Und Deutschland sei auch awesome, und der Manager fällt ihr ins Wort und entschuldigt sich für ihr Englisch, sie lerne eben noch.

Draußen vorm Gebäude warten an diesem Abend Lenas Fans. Lenaisten nennen sie sich. Der Polizist hat ihnen verraten, dass Lena hier sicher nicht vorbeikommen wird, weil sie längst durch die Hintertür ins Gebäude rein ist. Die Lenaisten wollen trotzdem warten. Sie warten praktisch überall, wo die Chance auf ein Treffen besteht.

Dass Lena eine Sonderstellung bei diesem Song Contest einnimmt, merkt man am Respekt, zum Teil der Ehrfurcht, mit der andere Teilnehmer über sie reden. Und man merkt es daran, dass Lena meistens fehlt.

Vor einer Woche begann die heiße Phase des Wettbewerbs, die Kandidaten haben mehrfach geprobt, Interviews und Autogrammstunden gegeben, und wenn mal ein Loch ist im engen Zeitplan, sieht man die Portugiesen auf dem Grünstreifen vor der Düsseldorfer Arena trommeln, der Kandidat aus Zypern räkelt sich in der Lounge im Ledersessel, die Dänen schwingen mitgebrachte Kinderrasseln, später werden sie in der Kantine zwischen freiwilligen Helfern ihre Nudeln essen. Bloß die Titelverteidigerin macht sich rar. Helfer tauschen untereinander ihre kleinen Lena-Momente aus. Einer sah sie am Probentag direkt vor ihrer Umkleide, Kabine 16, ausgestreckt quer auf dem Boden. Sie massierte sich ihre Füße, er musste über sie steigen, um vorbeizukommen. Sie sagte: „Meine Füße tun mir weh.“ Er sagte gar nichts und blieb auch nicht stehen. Sie haben ihm eingebläut: bloß keine Künstler anstarren.

Am meisten wird über das Lied diskutiert. „Taken By A Stranger“. So düster, so modern, so untypisch für den Wettbewerb. Mit Tänzerinnen in silbernen Ganzkörper-Gummianzügen. Der Eurovision Song Contest steht doch für Lebensfreude. Für Harmonie, heile Welt und auch Harmlosigkeit. Für Düdeldü und Lalala. All dies ist Lena 2011 nicht.

Man kann sagen, die deutschen Fernsehzuschauer hätten über die Liedauswahl abgestimmt, sich eben für „Taken By A Stranger“ entschieden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Stefan Raab, Lenas Förderer und Berater, wollte diesen Song. Lena auch. Während der Pressekonferenz am Samstag wird sie gefragt, warum das neue Lied denn so radikal anders klinge als „Satellite“, ihr Siegertitel aus Oslo. Na, weil sich ein Mädchen ihres Alters eben verändern müsse, sie sei doch nicht fünfzig! Lena sagt das in flüssigem Englisch. In Oslo antwortete sie noch auf Deutsch und dankte ihren Fans dafür, dass die „irgendwie so unterstützungsmäßig so geil unterwegs sind“.

Wenn Lena in diesen Tagen gefragt wird, ob ihr der Trubel zu schaffen mache, die vielen Pressetermine von morgens um neun bis Mitternacht, dann sagt sie: Das hier ist ein Job. Und bei Jobs könne man sich selten aussuchen, was man gerade machen möchte und was lieber nicht.

Es ist schlecht über sie geredet worden in den vergangenen Monaten. Lena habe sich übernommen, hieß es, das Unternehmen Titelverteidigung werde sicher mit einer Blamage enden. Und dieses dauerpräsente Gesicht könne man sowieso nicht mehr sehen. Wenn Lena ihre hochhackigen Sandalen trägt, sieht man auf der Innenseite ihres linken Fußes ein neues Tattoo. In Schnörkelschrift steht dort geschrieben: Je ne regrette rien.

Johnny Logan: "She didn't hit me"

Besonders ernst wird in Düsseldorf die Kritik von Johnny Logan genommen. Dem Iren, der den Wettbewerb als Einziger zweimal gewann, damals in den Achtzigern, als er noch Grand Prix hieß. Logan soll angeblich gesagt haben, dass er bei Lenas Lied keinen Zauber fühle. Dass es nicht sein Herz berührt habe. Ob er das wirklich so gemeint hat?

Man findet ihn in der Tonhalle, dem ehemaligen Planetarium direkt am Rheinufer. Logan wird hier ein Konzert geben, zusammen mit anderen Gealterten, die dem Grand Prix zumindest ein Stück Karriere verdanken. Guildo Horn ist gebucht, Katja Ebstein, Nino de Angelo. Dienstagnachmittag treffen sie sich zum Fototermin für die Presse. Noch ein bisschen dichter zusammen, bittet der Fotograf, jemand stellt einen menschengroßen Pappaufsteller von Lena dazu. Nino de Angelo zögert nicht und packt Lena an den Papphintern. Johnny Logan hält sich lieber an Katja Ebstein fest.

Nein, sagt er, er habe überhaupt nichts gegen die deutsche Titelverteidigerin. Und auch nichts gegen dieses Lied. Johnny Logan fährt sich durch sein volles, graues Haar, er wirkt ziemlich jung für seine 57 Jahre. Er habe doch bloß ehrlich sein und sagen wollen: Dieses neue Lied habe ihn nicht umgehauen. „It didn't hit me!“ Er scheint es noch nicht oft gehört zu haben. Logan glaubt, dass Lenas Lied „Dancing With Strangers“ heißt.

Der Wettbewerb habe sich überhaupt stark verändert. Früher gab es Orchester, jetzt tönen die Instrumente vom Band. „Ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist, muss jeder selbst entscheiden.“ Aber wenn sich Logan etwas wünschen dürfte, dann wohl, dass die Interpreten wieder mehr mit ihrem Herzen singen.

Zu den gewöhnungsbedürftigen Begleiterscheinungen des Prominentseins gehört, dass jeder Mensch eine Meinung über einen hat und die auch äußert, sagt Lena. Aber sie ertrage es, dass Menschen sie nicht mögen. Sie möge doch auch nicht jeden. Sehr deutlich merkt man das am frühen Montagabend, als Lena zu Gast bei der Eurovision-Warmlauf-Sendung „Show für Deutschland“ ist und den offensichtlich schlecht vorbereiteten Moderator Frank Elstner geradezu boshaft auflaufen lässt. Ständig verbessert sie ihn, auch bei Kleinigkeiten. Nein, sie werde gar nicht mitten auf der Bühne stehen! Sondern ein bisschen vor der Mitte! Nein, die Halle war keine Fußball-Arena, sie ist es noch! Das ist amüsant anzusehen, auch wenn man ein bisschen Mitleid hat mit dem Mann, der neben Lena so fürchterlich alt aussieht.

Vor der Reise nach Düsseldorf hat sich die Sängerin eine Kamera gekauft. Damit sie den Wahnsinn festhalten kann, der noch bis Samstag über sie hereinbricht. Sie fotografiert den Laminatboden ihres Delegationsbusses, der sie täglich vom Hyatt zu Terminen fährt. Sie fotografiert die Pressemeute, die sich ganz allein für sie interessiert und sogar die bildhübschen Zwillingssängerinnen aus der Slowakei ignoriert, wenn bloß der Verdacht besteht, Lena könnte gleich irgendwo die Treppe herunterkommen. Am Montagabend, auf der deutschen Dankeschönparty, bittet sie zum Schluss alle anderen Künstler zu sich auf die Bühne. Für ein Gruppenfoto, „so that we can have the moment“, sagt sie.

Geht es Lena wirklich nur um Momente, so gar nicht um Platzierungen?

Der Mann, der das vielleicht erklären kann, lehnt sich bequem in einer Sitzecke im Pressezentrum zurück. Roy van der Merwe ist aus Johannesburg eingeflogen, so wie er jedes Jahr einfliegt in den Austragungsort des Song Contests. Er ist der Präsident des weltweiten Eurovision-Fanclubs, dessen Mitglieder leben in San Marino und Tadschikistan und anderen Ländern, die Van der Merwe nie kennenlernen wird, weil sie wohl niemals den Song Contest gewinnen werden. Der Präsident trägt ein offenes Baumfällerhemd und Turnschuhe, das hier ist Urlaub für ihn, er ist Psychologe. Lena werde wohl nicht gewinnen, sagt Roy van der Merwe. Weil ihr Lied eben ein „Grower“ sei und kein „Instant“, weil es erst irritiere und dann mit jedem weiteren Hören wachse. Das sei die Ausnahme hier und ungünstig für die Bewertung.

Mehr kann Lena hier nicht erreichen, als sich zu wiederholen

Van der Merwe liebt deutsche Produktionen, so begann auch seine Liebe zum Grand Prix 1982 mit Nicoles „Ein bisschen Frieden“. Und ja, Ralph Siegel sei ein toller Komponist, aber da wolle er nicht drüber diskutieren, er wisse, dass viele Deutsche das irgendwie anders sehen. Lena jedenfalls, da ist er sicher, versuche dieses Jahr das einzig Richtige. Man wird Lena nicht in Erinnerung behalten als die Sängerin, die es nur auf Platz sechs oder acht oder sonst was schaffte. Man wird denken: Das war die mit dem raffinierten Song, gegen den alle anderen Titel unheimlich alt wirkten. Im Kosmos des Song Contests könne sie mehr nicht erreichen, als auf der Stelle zu treten.

Roy van der Merwe war auch bei Lenas Pressekonferenz. Er hat sich zu Wort gemeldet, hat erzählt, dass eine Sängerin aus Südafrika ihren Ohrwurm „Satellite“ aufgenommen habe, mit einem deutschen Text. Es gibt nur 50 Exemplare davon, und van der Merwe hat ihr eins geschenkt. Lena hat wieder Danke gesagt.

Später im Delegationsbus, so hält es ihr TV-Tagebuch fest, hat sie die CD in die Stereoanlage gesteckt und eingeschaltet, ein bisschen gehört, komisch geguckt und „Ich mach dann mal aus!“ gesagt.

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