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Leningrad-Blockade: 872 Tage Hunger

Vor 70 Jahren geschieht im eisigen Leningrad eine Katastrophe: Hitlers Wehrmacht belagert die Stadt – 900 000 Menschen sterben elendig. Ein Besuch in Russland.

Das Foto zeigt eine junge Frau mit fröhlichem Gesicht unter einer spitz zulaufenden Filzmütze, wie sie Rotarmisten trugen. Es entstand kurz vor dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Jewgenia Alexandrowna Bakasowa war 18 Jahre jung und Telegrafistin. Als der Krieg auf sowjetischen Boden übergriff, wurde Jewgenia zum Dienst beim Kommando der „Leningrader Front“ bestellt. Anfangs hatte es seinen Sitz am Schlossplatz, wurde jedoch mit dem Näherrücken der Deutschen in den Smolny verlegt, den legendären Ort der ersten bolschewistischen Regierung unter Lenin und seither Sitz der örtlichen Parteiführung. „Der Smolny“, sagt Jewgenia, „war unter großen Bäumen versteckt, den konnten die Bomber nicht so leicht erkennen.“

Heute lebt Jewgenia in einem 14-stöckigen Haus mit hunderten Wohnungen am längst zugebauten Rand der Stadt, die seit 1991 wieder St. Petersburg heißt. Mehr als vier Jahrzehnte hat Jewgenia nach dem Krieg als Sekretärin gearbeitet. In diesem Jahr wird sie 90. Sie kennt das Leben, sie hat die Blockade von Leningrad überlebt. 872 Tage lang, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, war die Stadt von der Wehrmacht eingeschlossen, abgeschnitten von jeglicher Versorgung auf dem Landweg. Nur über den im Winter zugefrorenen Ladogasee erreichten Lkw-Transporte die Stadt. Die Lebensmittelrationen sanken unaufhörlich, bis sie Ende November 1941 ihren Tiefpunkt erreichten. Jewgenia, auf kriegswichtigem Posten, erhielt täglich 600 Gramm Brot. Für Kinder gab es lediglich 150 Gramm, und wer keine Arbeit hatte, bekam 125. Das war der sichere Tod.

Während der Blockade starben nach offiziellen sowjetischen Angaben 649 000 Einwohner Leningrads. Die heutige Forschung geht von eher 900 000 Hungertoten aus, da bei Weitem nicht alle Opfer bestattet und gezählt werden konnten. Die Menschen starben überall, zu Hause, in Kliniken, auf der Straße. „Ein Freund, wie ich 18 Jahre alt, ging eines Abends auf die Straße und erfror“, erinnert sich Jewgenia. Der Tod wurde allgegenwärtig. „Man hatte sich so daran gewöhnt, dass man die Leichen auf der Straße gar nicht mehr sah“, sagt die Veteranin, deren Augen noch immer so fröhlich-neugierig blinken wie auf dem Jugendfoto. „Wir wussten, es kann jeden Tag zu Ende sein. Nur die tägliche Arbeit hat uns abgelenkt.“ Rund um die Uhr, in drei oder auch nur zwei Schichten, waren die Telegrafistinnen tätig. „Stalin sprach mit Schdanow“ – dem Leningrader Parteichef – „immer erst zwischen 23 und 2 Uhr in der Nacht“, erzählt Jewgenia, „dann war die Verbindung besser.“ Dass es die bevorzugten Arbeitsstunden des Kremlherren waren, denen die Funktionäre zu folgen hatten, sagt sie nicht.

70 Jahre liegt der Hungerwinter 1941/42 zurück, in dem die Mehrzahl aller Opfer zu beklagen war. Der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion kennt so viele schreckliche Ereignisse, dass die Blockade Leningrads hierzulande kaum ins Bewusstsein gedrungen ist. Doch der Hunger kam nicht einfach als Kriegsfolge. Er wurde vom NS-Regime geplant und von der Wehrmacht erzwungen.

Die meisten Menschen starben zwischen Januar und März. Die Temperaturen dieses ungewöhnlich harten Winters fielen auf minus 30 Grad, der Schnee häufte sich auf den ungeräumten Straßen, der Verkehr mit Bussen und Bahnen brach zusammen. Die Menschen gingen zu Fuß, um ihre Rationen im Brotladen zu erstehen, um Wasser aus Eislöchern in den Kanälen zu schöpfen und um unter der Hand etwas einzutauschen. Wer vor Schwäche auf der Straße hinfiel, starb unweigerlich.

Die Aufnahmen der Pressefotografen blieben unveröffentlicht, um die Moral der Menschen nicht weiter zu schwächen. Die Bilder liegen jetzt in einem großformatigen Band von Wladimir Nikitin, „Die unbekannte Blockade“ (St.Petersburg 2009) vor. Sie zeigen Transporte von Kinderleichen auf Rodelschlitten, das Zerlegen erfrorener Pferde durch Passanten oder die Hand eines Hungerkranken mit seiner Tagesration, einem Kanten Brot. Und sie zeigen verstümmelte Opfer unmittelbar nach einem der zahllosen Angriffe der deutschen Luftwaffe.

Es entstanden sogar Filmaufnahmen. Aus Archivbeständen zusammengeschnitten ist die Dokumentation, die im Informationspavillon des „Memorialfriedhofs“ von Piskarjowskoje, einem Stadtteil im Norden von St. Petersburg, gezeigt wird. Die Filmschnipsel bedrücken gerade in ihrer Lautlosigkeit. Lautlos liegen heute auch die flachen Hügel der Massengräber da, mit nichts als einer Jahreszahl versehen. Die meisten Gedenksteine sagen „1942“, doch die Grabfelder reichen bis zum letzten Kriegsjahr 1945. Vor der Monumentalskulptur, einer Allegorie der Trauer, bekreuzigt sich ein einsamer Besucher des schneebedeckten Friedhofs.

St. Petersburg zeigt kein augenfälliges Erinnern an die Blockade. Als der Name „Leningrad“ aufgegeben werden sollte, gab es massive Proteste der Älteren – nicht wegen Anhänglichkeit an den bolschewistischen Staatsgründer, sondern wegen der stolzen Erinnerung an die „Heldenstadt Leningrad“, als die sie eine große Leuchtschrift am Bahnhofsplatz bis heute preist.

„Heldenstadt“ durfte sie heißen, schon seit dem 1. Mai 1945, wie auch Stalingrad oder Odessa. Doch erst zu Zeiten des KP-Generalsekretärs Breschnew entstand das riesige Mahnmal am südlichen Eingang der Stadt, nahe am heutigen Flughafen Pulkowo. Bis dorthin drang die Wehrmacht vor. Ihre Artillerie legte die stalinistischen Bauvorhaben am Moskauer Prospekt lahm, vor allem den Weiterbau des monumentalen Gebäudes des Stadtsowjets. Es wurde erst nach Kriegsende fertiggestellt, wie die Mehrzahl der Stalinbauten, die Leningrad, der europäischsten Stadt des Landes, von der Moskauer Zentrale diktiert wurden. Die Lücken, die deutsche Bomben gerissen hatten, wurden schnell geschlossen. Dass die Stadt drei Jahre lang den Geschützen der Wehrmacht ausgeliefert war, passte nicht in das grotesk überzeichnete Bild vom „genialen Feldherren“ Stalin.

Die Blockade Leningrads ist – abgesehen von Stalingrad – der unmittelbarste und tödlichste Zusammenprall der beiden Diktatoren Hitler und Stalin auf dem Kriegsschauplatz des Ostens. Hitler erklärte während des herbstlichen Vormarschs der Wehrmacht, „Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichzumachen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten“. Stalin hingegen ließ weder Vorsorge für eine Belagerung durch die anrückende „Heeresgruppe Nord“ treffen und Lebensmittelvorräte anlegen, noch sorgte er für die Evakuierung der Bevölkerung, so lange sie möglich war. Die späteren Evakuierungen auf der „Straße des Lebens“ über den gefrorenen Ladogasee, an dem die Rote Armee einen schmalen Küstenstreifen verteidigte, rettete eine Million Einwohner vor dem Hungertod, jedoch erst nach dem ersten Winter der Einkesselung.

Hitlers Aushungerungsbefehl entsprang nicht der Radikalisierung des Krieges. Zwar waren bereits Einladungen zur Siegesfeier im Hotel „Astoria“ gegenüber der ehemaligen kaiserlich-deutschen Botschaft gedruckt, doch der Stopp des deutschen Vormarschs kam keineswegs ungelegen. Die Belagerung passte in die Gesamtstrategie der Nazis, die im berüchtigten „Generalplan Ost“ gipfelte. Im November 1941 erklärte das Oberkommando der vor Leningrad liegenden 18. Armee die „Vorteile“ des Aushungerns: „A) Ein großer Teil der kommunistischen Bevölkerung Russlands, der gerade unter der Bevölkerung von Petersburg zu suchen ist, wird damit ausgerottet. B) Wir brauchen vier Millionen Menschen nicht zu ernähren.“

So viele waren es nicht, aber auch die tatsächlich eingeschlossenen 2,5 Millionen hätte die Wehrmacht nicht ernähren können – die Rote Armee jedoch beinahe ebenso wenig. Die Brotrationen fielen auch deshalb so gering aus, weil Unterschlagungen sowie das Bevorzugen der Partei- und Militärelite die Lebensmittelmengen verringerten. Alte und Kleinkinder fielen bereits dem ersten Winter zum Opfer, in den ersten drei Monaten des Jahres 1942 starben jeweils 100 000 Menschen. Bis Ende 1943 war die Einwohnerschaft „um mindestens 1,9 Millionen auf kümmerliche 600 000 geschrumpft“, schreibt die englische Historikerin Anna Reid in ihrem Buch „Blokada. Die Belagerung von Leningrad 1941-1944“ (Berlin Verlag). Sie errechnet als Zahl der zivilen Todesopfer zwischen 650 000 und 800 000. Aber nicht alle kamen auf gleiche Weise ums Leben: „Auf der untersten Stufe der städtischen Lebensmittelhierarchie befanden sich Menschen, die keine Leningrader waren: Flüchtlinge vom Lande“, berichtet Reid und zitiert einen Augenzeugen: „Die Bauern wohnten in Lagern mit ihrem Vieh und ihren weinenden Kindern, die in den kalten Nächten zu Tode froren. Ende 1941 waren alle diese Bauern erfroren.“ Die Evakuierung der Landbevölkerung war ein tödlicher Fehler der Sowjetführung – mit katastrophalen Folgen für die ausbleibende Ernte im Sommer 1942.

Dazu kam das militärische Versagen der Roten Armee, die im „Großen Terror“ Stalins ihrer besten Offiziere beraubt worden war. Von den bei der miserabel geführten Winteroffensive 1942 eingesetzten 326 000 Mann verlor die Rote Armee mehr als 90 Prozent durch Tod und Verwundung. Bereits im Herbst 1941 war eine hastig zusammengestellte „Volkswehr“ von 70 000 Freiwilligen vollständig zerrieben worden.

Trotz des entsetzlichen Hungers ging das Leben weiter. Besonders das Kulturleben wurde gepflegt, weniger aus Propagandagründen, sondern zur Selbsterhaltung. Dimitri Schostakowitsch blieb in der Stadt und komponierte die ersten beiden Sätze seiner siebten, der „Leningrader Symphonie“, ehe er evakuiert wurde; der Dirigent Karl Eliasberg führte das Werk am 9. August 1942 mit gerade einmal 15 Überlebenden des Rundfunkorchesters auf – ergänzt durch Angehörige von Militär- und sonstigen Kapellen. Die Übertragung durch das dichte Lautsprechernetz der Stadt und bis hin zu den deutschen Truppen war eine der wirkungsvollsten Maßnahmen, um die Moral der Bevölkerung zu heben. In den Kellern der Eremitage lebten die Kunsthistoriker des riesigen Museums, dessen Bestände in 2540 Kisten hinter den Ural in Sicherheit gebracht worden waren, und schrieben bei Kerzenschein an wissenschaftlichen Arbeiten. Und der berüchtigte Geheimdienst NKWD verhaftete weiterhin Verdächtigte wegen „Sabotage“ und brachte sie in die Gefängnisse, wo man im ersten Winter sämtliche Häftlinge in ihren Zellen verhungern ließ. Stadt-Parteichef Andrej Schdanow, der Günstling Stalins, bekam, wie man sich bereits damals voller Wut erzählte, „heißen Kakao ans Bett gebracht“. Und nicht nur das, wie geheim gehaltene Fotos belegen, auf denen Feinbäcker Bleche voller Törtchen vorzeigen.

Der Hunger war stärker als alle „Ordnung“, die allerdings die Telegrafistin Jewgenia noch heute rühmt. Im ersten Halbjahr 1942 wurden allein 1216 Menschen wegen Mordes verhaftet – sie töteten um fremder Lebensmittel oder Bezugskarten willen und sogar aus Kannibalismus. Wegen „Gebrauchs von Menschenfleisch als Speise“ verhaftete der NKWD bis Ende 1942 nicht weniger als 2015 Verdächtige. Korruption war allgegenwärtig, und den Verkäuferinnen wurde nachgesagt, „für Brot bekommen sie alles, was sie haben wollen. Fast alle tragen, ohne die geringste Scham, Gold und teure Pelze.“

Nach dem Ende der Belagerung entstand eine üppige Memoirenliteratur, die durchweg Stereotypen folgt und als Quelle nur bedingt tauglich ist. Die angesehene Zeitschrift „Osteuropa“ veröffentlicht in ihrem Doppelheft „Die Leningrader Blockade. Der Krieg, die Stadt und der Tod“ unter anderem eine Reihe von Aufsätzen, die sich mit der Mythenbildung um die Blockade beschäftigen (Berliner Wissenschafts-Verlag). Der Hungertod wird zum Heldentod umgebogen, das kommunistische Ideal der Gleichheit verwirklicht sich im gemeinsamen Leiden.

Bald nach dem Krieg wurde die Erinnerung an die Blockade tabuisiert. Sie passte nicht ins Bild der siegreichen Roten Armee. Sogar das alsbald eingerichtete Blockademuseum wurde nach einem Besuch der Moskauer Parteispitze zerstört. Das heutige Blockademuseum ist eine konventionelle Kriegsausstellung, voller Uniformen und Waffen. Es entspricht ganz der Rhetorik, die für den „Großen Vaterländischen Krieg“ als Ersatz für den fade gewordenen Leninismus geprägt wurde.

Mit Jewgenia Alexandrowna stirbt die Generation der Blockade-Veteranen aus. Einmal im Jahr, am 9. Mai, treffen sich alle Telegrafistinnen vom Smolny. Im Krieg waren sie 130. Jetzt, sagt Jewgenia, sind es noch drei oder vier.

Anna Reid liest aus ihrem Buch „Blokada“ im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst am Dienstag, 7. 2., um 19 Uhr.

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