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Panorama: Liebe ist nicht genug

Erst nach drei Jahren und vielen unangenehmen Fragen durfte eine deutsche Mutter ein Kind adoptieren

Frankfurt (Oder) - Carmen Marquis weiß, wie die meisten Adoptionsverfahren aus Sicht der künftigen Eltern beginnen: „Am Anfang wünscht man sich ein Kind und stellt fest, dass man keins bekommen kann.“ Für sie als Vorsitzende des Berlin-Brandenburger Landesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien mag das ein ziemlich banaler Satz sein. Aber sie bringt die Worte nur zögerlich über die Lippen. Weil sie weiß, was dahinter steckt. Sie hat es durchgemacht, drei Jahre hat es gedauert. Ihre Adoptivtochter ist jetzt 15 Jahre alt. Das Mädchen kennt seine eigene Geschichte. Es ist eine Geschichte, die man keinem Kind erzählen möchte. Aber vermutlich ist die Geschichte von Carmen Marquis alltäglicher als die von Bundeskanzler Gerhard Schröder, der gemeinsam mit seiner Frau Doris gerade ein kleines Mädchen aus Russland adoptiert hat.

Als Carmen Marquis und ihr Mann wussten, dass sie selbst keine Kinder bekommen können, wandten sie sich ans Jugendamt ihrer Heimat Frankfurt (Oder). Es gibt dort eine Adoptionsvermittlung, die Angebot und Nachfrage kennt und die Bewerber berät. In Deutschland ist die Nachfrage größer als das Angebot, weil es einerseits viele kinderlose Paare gibt und andererseits unerwünschte Kinder eher abgetrieben als geboren und zur Adoption freigegeben werden.

Die Sozialarbeiterin vom Frankfurter Jugendamt sprach oft und lange mit Carmen Marquis. Sie hatte ein paar Punkte, die sie abhaken konnte: Ein künftiger Elternteil musste über 25 Jahre alt sein, die Bewerber mussten ein gesichertes Auskommen haben und in einem augenscheinlich funktionierenden Haushalt leben. Außerdem sollten sie verheiratet und nicht älter als 40 Jahre sein. Verheiratete sind dem Amt lieber als Einzelpersonen, weil sich laut Gesetz eine typische Eltern-Kind-Beziehung entwickeln soll. Auch ein paar Ausschlusskriterien ließen sich abfragen: Wer beispielsweise kein Kind einer Prostituierten adoptieren wollte, konnte das im Fragebogen ebenso angeben wie seinen Wunsch nach einem Jungen oder einem Mädchen. So weit die Fakten. Alles Weitere hing maßgeblich vom Bauchgefühl der Sozialarbeiterin ab – keine einfache Basis für eine Behörde.

Die Frau vom Jugendamt ergründete, ob Carmen Marquis die Trauer über die eigene Kinderlosigkeit überwunden hatte. Das war notwendig, damit sie ihr Adoptivkind nicht als „Ersatzlösung“ ansehen würde. Die Frau vom Amt warnte, dass die Wahrheit für das Kind – wann immer es sie erfahren sollte – schwer erträglich sein könnte und empfahl Erklärungsversuche für den Tag X. Sie forderte von Carmen Marquis eine schriftliche Abhandlung über deren eigene Jugend an. „Das war seelischer Striptease, ich fand das unheimlich hart“, erinnert sich die 40-Jährige. „Am Anfang denkt man ja, man hat das Kind lieb und damit ist es gut. Aber Liebe allein reicht nicht.“ Als alles geregelt war, musste noch eine achtwöchige Widerspruchsfrist der leiblichen Mutter abgewartet werden. Dann wurde die Adoption rechtskräftig.

Toni war vier Jahre alt, als sie mit ihrer neuen Mutter vor dem Familienrichter saß. Sie wusste, dass sie ins Kinderheim gekommen war, weil ihre andere Mutter sie nicht gewollt hatte.

Carmen Marquis kannte diese andere Mutter nicht, aber dass Toni schon damals um ihre Herkunft wusste, machte allen in der neuen Familie das Leben leichter. „Dieses Thema ist immer da. Je älter das Kind wird, desto mehr will es wissen“, sagt Carmen Marquis. Vielleicht nicht gleich die ganze Wahrheit sagen, aber bloß nicht lügen, hatte die Frau vom Jugendamt gewarnt.

Carmen Marquis kannte selbst nur die halbe Wahrheit. Bis sie Kontakt zu Tonis leiblicher Mutter aufnahm. Erst hat sie ihr geschrieben, dann haben sie telefoniert und sich später getroffen. Die Mutter erzählte, dass sie Toni damals weggegeben habe, weil sie mit ihr überfordert war. Die Mutter war selbst ein Heimkind und kaum 18, als sie schwanger wurde. Toni sei kein Wunschkind gewesen, sondern das Resultat einer Vergewaltigung.

An dieser Stelle klingt Carmen Marquis, als könne sie die Geschichte selbst nicht glauben. Aber sie kann sich vorstellen, dass die Mutter es nicht mehr ertrug, als ihr Töchterchen zum Kuscheln kam. Über den Täter wisse sie nichts, sagt Carmen Marquis. Sie will es ihrer Tochter überlassen, auch noch den Rest der Wahrheit herauszufinden, irgendwann. Toni trifft sich gelegentlich mit ihrer leiblichen Mutter. Sie redet sie mit dem Vornamen an. Zu Carmen Marquis sagt sie „Mutti“.

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