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Panorama: "lines": Koks-Koketterie

Der rote Faden in Bettina Gundermanns Debüt ist eine weisse Linie: Kokain. Ihr schnüffelt sich der Ich-Erzähler entlang und gibt dabei seine Geschichten zum Besten.

Der rote Faden in Bettina Gundermanns Debüt ist eine weisse Linie: Kokain. Ihr schnüffelt sich der Ich-Erzähler entlang und gibt dabei seine Geschichten zum Besten. Diese Geschichten handeln von Süchtigen, die Kinder kriegen und sterben, von den Kindern der Süchtigen, die im Nonnenheim landen oder im Müllcontainer und zunächst überleben, von Selbstmörderinnen, die ebenfalls zunächst überleben, aber nur halb. Ein bisschen später segnen auch sie das Zeitliche.

Eine recht jenseitige Angelegenheit also, doch von einem bekoksten Erzähler, der schwarze Tränen weint und sich als Zauberer mit spitzem blauem Hut vorstellt, ist wohl nichts anderes zu erwarten. Zu erwarten ist hingegen, dass sich "lines", der Titel dieses Erstlings, nicht nur auf die weisse Puderspur bezieht, sondern auch und vor allem auf die relativ kurzen Lebenslinien der einzelnen Figuren.

Unser Zauberer tritt auf, um die Kreuzungen, Knoten und Fluchtpunkte dieser Linien aufzuzeigen, um die Verbindung herzustellen zwischen Paula und Mike, Mara und Georg, Rebecca und Pedro - lauter Menschen, die aus der Einsamkeit in die Zweisamkeit fliehen oder umgekehrt. An ihnen demonstriert die Autorin, dass sich jedermann nach Liebe sehnt und sowohl an der Sehnsucht als auch an der Liebe zugrunde gehen kann.

Da dieses traurige Lied schon öfters gesungen worden ist, wird es hier halluzinogen aufgepeppt, das heisst, zwischen den vermutlich ironisch gemeinten zuckersüssen Paarungsepisoden - Koch und Kellnerin finden einander beim Spiegeleibraten, Resultat: früher Feierabend; Müllcontainerjunge und Nonnenheimmädchen finden sich in gewittriger Vollmondnacht, Resultat: nasse Bett-Tücher -, tanzen immer mal wieder Feen vorbei, man wirft sich Pillen ein und dreht total auf.

Diese Form der Alltagsbewältigung wird auch vehement gegen das mörderisch langweilige Durchschnittsdasein verteidigt, nur leider mit Floskeln, die direkt aus der Schublade "Werbespots für Borderline-Existenz" zu stammen scheinen. So belehrt uns der Zauberer: "Du kannst dich für das verfickte Mittelmass entscheiden. Auf Pfaden trampeln, die ausgetreten und matschig sind von all den anderen Millionen Fussabdrücken. Oder du kannst deine Grenzen leben. Nach oben wie nach unten. Kannst testen, ausprobieren, auf die Schnauze fallen, wieder aufstehen, kannst glauben, vor Glückseligkeit zu fliegen...", undsoweiterundsofort.

Übrig bleibt von dieser Buch gewordenen Mischung aus Schmalz und Schmirgelpapier eine Koks-Koketterie im schon etwas abgetragenen Gewand des modernen Schauermärchens. Da besteht wenigstens keine Suchtgefahr.

Sacha Verna

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