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Der Angeklagte Breivik mit seiner Anwältin.

© AFP

Massenmörder Breivik: Ein Prozess der Tapferen

Es braucht eine Stunde für die Namen der Toten. Anders Breivik hört zu, wie sie verlesen werden. Ungerührt. „Ich gestehe die Tat“, sagt er. „Aber ich handelte in Notwehr“. Eine Reportage aus dem Gerichtssaal.

Auf einmal steht er da, in der Tür zum Gerichtssaal, betritt den Raum langsam. Unsicher sieht er aus, blass, weich, jung. Ein Polizist nimmt ihm die Handschellen ab – und er reckt den rechten Arm, die Faust geballt. Auftritt Anders Behring Breivik, angeklagt des Terrorismus und vorsätzlichen Mordes, geständig, bislang ohne Reue.

Er lächelt. Er setzt sich, schüttelt der Richterin die Hand. Dieses Gericht werde er nicht anerkennen, gibt er anschließend zu Protokoll. Ein „Zirkus“ würde der Prozess werden, hatte Breivik vorab gesagt. Sein Zirkus, hatten manche befürchtet. Seine Bühne für Ideen, die ihn dazu brachten, am 22. Juli 2011 innerhalb nur weniger Stunden 77 Menschen zu töten.

Acht starben, als er eine Bombe im Osloer Regierungsviertel zündete, 69 erschoss er im Sommerlager der Jugendorganisation der regierenden Sozialdemokraten auf der Fjordinsel Utöya. All das, weil er der Multikulturalisierung Europas Einhalt gebieten, den „kulturellen Marxismus“, wie er es nennt, stoppen wollte.

Breivik wischt sich über die Schultern, über die Ärmel seines dunklen Anzugs. Makellos will er im Gericht sitzen, ohne Fussel. Seriös, als politischer Aktivist, nicht als Geisteskranker, für den ihn die Psychiater erst hielten.

Die Norweger wollten diesen Prozess. Sie wünschen sich Gerechtigkeit. Wie auch immer die aussehen kann in so einem Fall. Zehn Wochen soll das Verfahren dauern. Sie sind bereit. Ihr Regierungsviertel, das nicht weit entfernt liegt vom Gericht, haben die Norweger notdürftig mit Bretterzäunen verpflastert. Ihre Trauer haben sie vorerst verstaut. Sie lagert, gewaschen, getrocknet und sortiert, in 40 grauen Plastikboxen und 250 schmalen braunen Pappkartons im Keller des norwegischen Reichsarchivs, Endstation U-Bahnlinie 3, im Wald.

Stian Norli hat sie eingesammelt. Natürlich nicht alleine, dafür war die Trauer zu groß. Sie waren etwa 20, als sie in der Nacht des 3. August, zwei Wochen nach der Tat, losgingen zum Osloer Dom, der weit draußen in einem See von Blumen lag. An seinen Ufern brannten Kerzen, und ging eine aus, dann zündete einer der Wachmänner, die im vergangenen Sommer immer dort standen, sie wieder an.

Die Bilder vom Breivik-Prozess:

Das Archiv hatte beschlossen, die abgelegten Erinnerungen an die vielen Toten aufzuheben. Man hatte so etwas schon einmal gemacht, beim Tod König Olavs 1991. Also stieg Norli, der Archivar, mit seinem Trupp über die Absperrgitter und hinein in den Blumensee, er reichte ihm fast bis zum Knie.Sie arbeiteten sich von außen nach innen vor. Rosen und andere Blumen legten sie hinter sich, Zettel und Stofftiere steckten sie in Kartons. Auf den Bildern, die Norli im Computer zeigt, sieht es aus, als ernteten sie.

Breivik: "Ich handelte in Notwehr."

Wie Baumringe lagen die Erinnerungen in Schichten umeinander, sagt er. Schockwellen, die, statt zu verebben, intensiver wurden: Innen die schnell geschriebenen Trauerbotschaften. Kurz. Entsetzt. Weiter draußen längere Nachrichten und Briefe.

Nach vielen Nächten hatte er das Gefühl, er kenne die Opfer persönlich, so oft hatte er ihre Bilder zwischen den Blumen gesehen. Er hörte auf, Zeitungen zu lesen, weil er lieber nicht wissen wollte, wer das genau war, den er da vom Boden auflas, einpackte, trocknete, verstaute.

Im Gericht ist die Staatsanwältin aufgestanden. Es ist der erste Tag des langen Prozesses, Tag der Formalitäten. Inga Bejer Engh, schmal und blond, stützt die Hände links und rechts auf das Stehpult, als sie die Anklage verliest Sie fordert, Anders Breivik in die Psychiatrie einzuweisen – oder die maximale Freiheitsstrafe von 21 Jahren zu verhängen. Als die Anklage formell erhoben wurde, vor Monaten, gab es ein psychiatrisches Gutachten, das Breivik für geisteskrank hielt. Nun gibt es ein weiteres, das zeigen soll: Der Mörder, 33 Jahre alt, ist zurechnungsfähig, nicht psychotisch.

Inga Bejer Engh verliest 19 Seiten, sie liest die Namen aller Toten, wo sie gefunden wurden, die genauen Todesursachen. Anders Behring Breivik sitzt ihr gegenüber am anderen Ende des Raumes. Er sieht nach unten auf den Tisch vor ihm. Er liest mit, trinkt einen Schluck Wasser.

Mona Abdinur, geboren am 3. Februar 1993, erschossen im Café auf Utöya. Direkt neben dem rechten Ohr trat eine Kugel in ihren Schädel ein, an der linken Schläfe trat sie wieder aus. Der Schuss in den Rücken durchschnitt Luftröhre und Lunge.

Breivik atmet ruhig, ganz langsam hebt und senkt sich sein Brustkorb.

Kevin Daae Berland, geboren am 24. Juni 1996. Getötet am Ufer auf Utöya, mit mindestens drei Schüssen, davon einer in den Kopf und einer in den Hals.

Medizinische Fachworte, umständliche Sprache, abstrakt. Der Tod am 22. Juli 2011 war keine simple Sache. Und er war es doch. Hanne Marie. Tot. Johannes. Tot. Tamta. Tot. Sharidiyn. Tot. Die Liste ist endlos, sie zu verlesen dauert eine Stunde. Für die Angehörigen und Freunde der Opfer, die hinter Breivik sitzen, getrennt von ihm durch Panzerglas, ist das eine Tortur. „Ich gestehe die Tat“, sagt Breivik anschließend. „Aber ich bekenne mich nicht schuldig. Ich handelte in Notwehr.“

Als im vergangenen Sommer am Dom Menschen standen und weinten fragte ein kleiner Junge seine Mutter: Ist das jetzt wie im Zweiten Weltkrieg? Stian Norli, groß, blond und freundlich, stand im Blumensee, als er das hörte.

Norli ist 38 und hat selbst zwei Kinder, sechs und acht Jahre alt. Am Nachmittag des 22. Juli saß er mit beiden im Kino, von der Explosion und der Schießerei bekamen sie nichts mit. Nachher haben sie über alles gesprochen, die Kinder wissen auch, dass ihr Vater die Erinnerungen an die Toten aufhebt. Sie finden das gut. Wenn Norli nach durchsammelten Nächten direkt nach Hause fuhr, wollten die Kinder morgens sofort sehen, was er im Auto mitgebracht hatte. Er holte auch Dinge aus Utvika, gegenüber der Insel Utöya. Da wollte niemand reden. Die Menschen, die am Ufer saßen und schwiegen, waren die Eltern der Toten.

Nicht ein einziges Fitzelchen haben sie weggeworfen. „Nass oder schmutzig“, sagt Norli, „es hat eine Bedeutung.“ Er zieht eine Kladde mit Zeichnungen aus einer der braunen Boxen. Ein Comic, gemalt mit Buntstiften. Figuren auf dem Weg nach Utöya, sie freuen sich aufs Sommerlager, dann erfahren sie von den Bomben in Oslo. Zum Glück, denken sie, sind wir hier sicher. Ein schwarz gekleideter Mann steht im nächsten Bild, er hält eine Pistole. Es fließt viel Blut.

Aus einer der grauen Boxen hebt Norli Plastikblumen, Schmuck, einen großen Stein, auf dem mit weißem Stift eine Botschaft geschrieben steht. In der Sammlung liegen auch ein Skateboard und ein Goldring – und etwa 3000 Kuscheltiere. Ein weißer Stoffhase in Latzhose, ein selbst gestrickter grauer Bär, ein schwarzer und ein brauner. Abgekämpft sehen sie aus, dem Hasen hängen die Ohren schlapp herunter. Sie haben dem Gespenst Anders Behring Breivik die Stirn geboten, dessen Namen hier niemand gern sagt, der auf den Zeichnungen der Kinder ein schmales Männchen mit wildem Grinsen ist.

Breivik will im Gefängnis die Geschichte aufschreiben

Im Gericht sitzt der nun und weint. Eine Träne hängt in seinem rechten Augenwinkel, er schließt die Augen, presst die Finger auf die Lider. Anders Breivik weint, als er das Video sieht, das er selbst erstellt hat. Es sollte für seine Ideen im Internet werben, nun führt es die Staatsanwaltschaft vor. Sphärische Klänge, Schlachtengetrommel, Strichmännchen, die in die Knie gehen vor der „political correctness“, die Breivik so hasst. Es ist eine Kollage gegen die vermeintliche Islamisierung Europas. Sie rührt, das lässt sich nur vermuten, den Mörder noch immer zu Tränen. Weint er um sich? Um seinen Kreuzzug? Ist er ergriffen vom Pathos seiner Tat? Seine Anwältin Vibeke Hein Baera berührt ihn besorgt. Er nickt – und trocknet die Tränen.

Er weint nicht, als die Staatsanwaltschaft später Videos von Überwachungskameras aus dem Regierungsviertel zeigt. Es ist zu sehen, wie Breivik den weißen Van parkt, der die etwa 950 Kilogramm schwere Bombe enthält, wie er aussteigt, zügig zu seinem Fluchtfahrzeug marschiert, während andere Fußgänger ahnungslos durch die Straßen gehen. Die Aufnahmen zeigen, wie Minuten später der Van explodiert, Menschen durch die Luft fliegen, Glasscherben niederregnen. Auf einer Grafik leuchten kleine rote Punkte. Es sind die Opfer. Im Gericht ist es ganz still. Breivik zuppelt an seinem Krawattenknoten, er kratzt sich. Der Staatsanwalt fährt fort.

Um 17.17 Uhr erreicht Breivik die Insel Utöya. In einer Animation wird er selbst zum kleinen roten Punkt, der über die Insel wandert und auf alle schießt, die er erwischen kann. Ein Hilferuf wird eingespielt, ein junges Mädchen in einer Toilettenkabine sagt der Polizistin: „Jemand läuft herum und schießt.“ Sie ist in Panik. Im Hintergrund hallen blechern die Schüsse. Breiviks Anwalt Geir Lippestad sieht zerknittert aus.

Hass, sagt Stian Norli, sei in den Botschaften der Norweger nicht zu finden gewesen. „Nur Liebe, Sorge und Trauer.“ Etwa 20 000 Zettel und Notizen befinden sich nun in den Kartons, 95 Prozent hat Norlis Team schon digitalisiert. „Es sind wunderschöne Dokumente“, sagt er. Geschichte hat er studiert und Archäologie, schon als Student arbeitete er im Archiv. Und kam Geschichte nicht näher als bis auf Armeslänge, als sehr altes Dokument,das er in der Hand hielt. Auf einmal steht er mittendrin.

Es ist 18 Uhr, als Anders Breivik von der Insel Utöya die Polizei anruft, um sich zu stellen. Auch die Aufnahme dieses Gesprächs spielt die Staatsanwaltschaft ab. Ein bizarres Telefonat. Er sei Mitglied der antikommunistischen norwegischen Bewegung, sagt Breivik. Er führe eine Operation durch und sei bereit, sich der Polizei zu stellen. Nur ist die nicht da, wo sie sein sollte – auf der Insel. Also schießt er weiter, mehr als eine halbe Stunde lang.

Auf die Eingangsfrage der Richterin Wenche Elizabeth Arntzen, ob es korrekt sei, dass er derzeit arbeitslos sei, antwortete Breivik mit Nein. „Ich bin Publizist“, sagte er, „und arbeite aus dem Gefängnis.“ Die Geschichte, die Anders Breivik schreiben wollte, sah ihn am Ende als neuen Herrscher Norwegens. Schon in einer ersten Anhörung hatte er den Anwesenden von seinen Plänen erzählen wollen. Die Richter unterbrachen. Nun soll er nur noch sagen dürfen, was wirklich notwendig ist. Ab Dienstag hat er fünf Tage Zeit zu sprechen, zu erklären, warum er nicht schuldig sei. „Es ist sein Recht“, sagt Anwalt Lippestad. Ein norwegisches Recht, ein Menschenrecht.

Anders Breivik gibt nicht auf. Aber die Norweger auch nicht.

Eine Fotoreportage zum Attentat

Sie haben die wirren Fäden aus Breiviks Geschichte aufgenommen und selbst weitergesponnen. „Wir machen Geschichte“, sagte Stian Norli zu den Jugendlichen, die ihn damals fragten, was er da tue, knietief im Blumensee. Und ihr macht sie auch.“ Da wurde der Archivar zum Katastrophenhelfer.

Eines Abends im vergangenen August stand ein kleiner Junge am Absperrgitter vor dem Osloer Dom. In der Hand hielt er seinen Teddybären, er hatte das Tier lieb, das sah man. Nun war er gekommen, um den Bären zu den Blumen und den anderen Stofftieren zu setzen, weil er ja wusste, dass der Bär eines besonders gut kann: trösten. Doch als er dort stand und sich trennen sollte, da war er sich doch nicht mehr ganz sicher. Norli erzählte dem Jungen, was mit dem Bären passieren würde. Zusammen mit den anderen würde er ihn aufbewahren, für Jahre und Jahrzehnte. Ein Zeugnis der Tapferkeit.

Gut, sagte der kleine Junge und gab ihm den Teddy.

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