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Kreislauf. Eine Obdachloser in London liegt im Eingang der Bank Lloyds TSB, die mit Steuergeldern gerettet werden musste. Die Briten bezahlen die riskanten Bankgeschäfte und Staatsschulden der Vergangenheit mit harter Sparpolitik – fast klaglos. Foto: AFP

© AFP

Panorama: Mathematik der Armut

Je ärmer die Briten werden, desto weniger Arme gibt es – der offiziellen Statistik zufolge.

Auf einem Parkplatz in Walthamstow in Ost-London treffen sich täglich bis zu 70 Leute an Camping- und Holztischen. Es ist keine Streetparty zum Jubilee, sondern eine von Dutzenden von Suppenküchen für Menschen, die sich nicht einmal mehr das tägliche Brot leisten können. Früher kamen nur Obdachlose zu den Autos und Lieferwagen, aus denen Suppen und Sandwiches verteilt werden. Nun kommen auch Menschen, die ein Dach über dem Kopf und sogar Arbeit haben. Denn Arbeit, so eine neue Studie, die gestern im „Guardian“ veröffentlicht wurde, ist kein Schutz vor Armut mehr.

Nicht nur in Griechenland gibt es mehr und mehr Armenküchen. Auch in Großbritannien, der siebtreichsten Nation der Welt, wächst die Not.

Sieben Millionen arbeitende Briten leben am Rande des Ruins. Der Lohn reicht kaum noch oder nicht mehr, den Lebensunterhalt zu bestreiten. 3,6 Millionen Haushalte sind betroffen, in denen mindestens eine Person arbeitet – und doch können die Familien nicht sicher sein, ihren Hunger zu stillen oder das Dach über dem Kopf zu behalten. Die kleinste Extrarechnung kann alles zum Einstürzen bringen. „Dies sind traditionell stolze, arbeitende Menschen, die für sich selber sorgen, die neue Arbeiterklasse – nur dass sich die Arbeit nicht mehr auszahlt“, sagt Bruno Rost von der Einkommensanalyse-Firma „Experian“, die die Daten sammelte. Vor einer Woche hatte die Wohltätigkeitsorganisation Oxfam die Sparmaßnahmen der Regierung als „perfekten Sturm“ beschrieben, der die verwundbarsten Menschen im Land vernichten könne. Seit drei Jahren lebt Großbritannien in einem Strudel aus Sparsamkeit, Lohnstopp, Gehaltskürzungen, Reduzierungen von Sozialzuschüssen und Renten. Anders als in vielen anderen Ländern haben die Briten diesen Sparkurs lange geduldig hingenommen. Sie wussten, dass es keine Zukunft hat, akute Haushaltsprobleme auf Kosten der nächsten Generation zu lösen und auf Pump über seine Verhältnisse zu leben. Man war sich einig über den richtigen Weg in die Zukunft: Sparsamkeit und der Versuch, fünf Millionen Sozialhilfeempfänger in Arbeit zu bringen.

Doch die Wirtschaft stagniert in der Euro-Krise, die Not wächst und der Konsens bröckelt. „Immer mehr Menschen mit niedrigen Einkommen schaffen es nicht mehr bis zum Zahltag am Ende der Woche“, berichtet Chris Mould, Chef des Trussel Trust, der in England 170 sogenannte „Food Banks“ betreibt. Die Zahl von Armenküchen und Lebensmittelausgaben hat sich verdoppelt. Jede Woche gibt es irgendwo eine neue Organisation, meist von Freiwilligen, die überschüssige Nahrungsmittel von Supermärkten und Herstellern einsammeln und als Lebensmittelpakete an Bedürftige verteilen. Mould stellt auch fest, dass immer mehr Jugendliche kommen – seit die Regierung 2011 eine Erziehungsbeihilfe für über 16-Jährige gestrichen hat.

Nun hat eine neue Debatte über Armut begonnen. Und darum, wie Armut gemessen und definiert wird und was sie in einer wachstumsschwachen Sparsamkeitsgesellschaft bedeutet, wie sie immer mehr zur Realität in ganz Europa wird. Der Grund für die Debatte ist nicht nur soziale Not, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die schwindenden Zukunftshoffnungen der Jugend – sondern eine mathematische Kuriosität. Obwohl immer mehr Menschen weniger Geld haben, ist die offizielle Armutsquote im letzten Jahr gesunken. Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Da die Durchschnittseinkommen im letzten Jahr um 3,1 Prozent gesunken sind – der größte Rückgang in 30 Jahren – ist die Zahl der „relativ Armen“ kleiner geworden. Wenn alle ärmer werden, gibt es weniger Arme.

Labour schrieb sich per Gesetz vor, die Zahl der in Armut lebenden Kinder bis 2010 auf 1,7 Millionen zu reduzieren, verfehlte das Ziel aber trotz Wirtschaftswachstums und immer höherer Sozialausgaben um 600 000 Kinder. 2,3 Millionen oder 18 Prozent der Kinder leben in Armut. Aber ausgerechnet im Sparjahr 2011 war der Rückgang deutlicher als je. „Das zeigt, dass Armut nicht nur etwas mit Geld und Einkommen zu tun hat“, argumentierte Sozialminister Iain Duncan Smith. „Es ist pervers, wenn der Zusammenbruch der Wirtschaft die beste Methode ist, Armut zu bekämpfen.“ Er will Armut absoluter definieren und soziale Faktoren einbeziehen – ob ein Kind allein erzogen wird, ob die Eltern arbeiten. „Eine Familie in die Arbeitswelt zu integrieren, Beziehungsarbeit zu unterstützen, Eltern von Drogen und Schulden wegzubringen, das kann mehr für ein Kind leisten, als noch so hohe Arbeitslosenzahlungen.“

Labour-Sozialpolitiker werfen ihm nun vor, steigende Armut, wachsende Ungleichheit und die Folgen von fast zwei Milliarden Pfund Kürzungen im Sozialhaushalt zu kaschieren – die erst der Anfang des Sparprogramms sind. „Wie immer werden Arme als Suchtabhängige, Arbeitsverweigerer dargestellt“, schimpfte die Sozialkommentatorin des „Guardian“, Polly Toynbee.

Die neuen Zahlen widerlegten „das Mantra aller Politiker, dass Arbeit der Weg aus der Armut ist“, kommentierte der Labour-Abgeordnete Frank Field, ein unabhängiger Sozialdenker, der auch als Armutsbeauftragter der Koalitionsregierung arbeitet. Nun müssen sich alle etwas Neues ausdenken. Seit 2002 sind die britischen Sozialausgaben um 40 Prozent gestiegen. Das kann das Land nicht mehr finanzieren.

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