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Panorama: „Meine Frau und unser Baby sind da drin“

Der erdbebengefährdete und besonders arme Osten der Türkei bebt erneut / Etwa 1000 Opfer befürchtet

DORF TABANLI]DORF TABANLI]Kleinere Erdbeben sind für die Menschen im osttürkischen Van nichts Außergewöhnliches, doch als ihre Stadt am Sonntag kurz nach Mittag von einem Erdstoß erschüttert wird, ist allen sofort klar, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss: Innerhalb weniger Sekunden stürzen so viele Gebäude in sich zusammen, dass der aufsteigende Staub die Sonne verdunkelt. In einem gespenstischen Zwielicht laufen die Menschen voller Angst auf die Straßen, viele tragen Bündel mit ihren Kleinkindern in den Armen. Einige weinen hemmungslos, andere versuchen verzweifelt, Freunde und Angehörige per Handy zu erreichen, doch das Mobilfunknetz ist vorübergehend ausgefallen. Wieder andere fliehen mit ihrem Wagen aus der Stadt und verstopfen die Straßen. Die türkische Erdbebenwarte sagt 700 bis 1000 Todesopfer voraus.

Das Epizentrum des Bebens mit einer Stärke von 7,2 lag etwa 40 Kilometer nördlich der Provinzhauptstadt Van, fünf bis zwanzig Kilometer unter der Erde. Das ist relativ flach für ein Erdbeben – und ein schlechtes Zeichen, da flache Beben meist zerstörerischer sind als tiefer gelegene. In Van und der Kreisstadt Ercis am Nordufer des Van-Sees kollabieren während des Erdstoßes mehrere Dutzend große Wohngebäude, darunter ein Schülerwohnheim. Andere Gebäude werden stark durchgerüttelt. Das Team einer Nachrichtenagentur filmt, wie das Beben ihr Büro im fünften Stock verwüstet.

An einem Sonntagmittag sind in osttürkischen Provinzstädten wie Van oder Ercis viele Menschen zu Hause, besonders Frauen und Kinder. Deshalb befürchten die Überlebenden und die rasch eintreffenden Rettungsteams, dass viele Menschen unter den Trümmern der Häuser begraben wurden. „Meine Frau und mein viermonatiges Kind sind da drin“, weint ein junger Mann vor einem zerstörten Haus in Ercis während einer Live-Sendung des türkischen Fernsehens. Retter in den Trümmern berichten von Stimmen der Verschütteten unter den Betonbrocken, doch vielerorts werden nur noch Tote geborgen. Allein in Ercis sterben nach einem Online-Bericht der Zeitung „Hürriyet“ mindestens 50 Menschen. Das staatliche Krankenhaus versorgt rund 1000 Verletzte, in Van wird ein Feldlazarett eingerichtet.

Nach viel Kritik an der Unfähigkeit der Behörden bei Erdbeben in den vergangenen Jahren hat der türkische Katastrophenschutz offenbar einiges dazugelernt. Helfer, Krankenwagen, schweres Gerät wie Bagger und auch Scheinwerfer für die Suche in der bald einbrechenden Dunkelheit sind zumindest an einigen Orten relativ rasch zur Stelle, der türkische Rote Halbmond schickt noch am Nachmittag tausende Zelte, Decken und Heizöfen in die Unglücksregion. Das Gesundheitsministerium beordert alle verfügbaren Rettungshubschrauber nach Van, die Armee stellt drei Transportflugzeuge für den Katastropheneinsatz ab. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu machen sich sofort auf nach Ostanatolien.

Es sind in erster Linie nicht die aus Lehmziegel gebauten Bauernkaten auf dem flachen Land, die zusammengestürzt sind. Die meisten Toten sind in Betonkästen in Van und Ercis zu beklagen. Die vielen zerstörten Gebäude erinnern an die Ruinen des katastrophalen Erdbebens im Nordwesten der Türkei 1999, als 20 000 Menschen starben: übereinander geschichtete Betondecken, die alles zwischen sich zerquetscht haben. In solchen Gebäuderesten bleiben kaum Hohlräume, in denen Menschen überleben können.

Van gehört zu den ärmsten Gegenden der Türkei; seine Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch Flüchtlinge des Kurdenkrieges stark gewachsen. Das alte Van wurde 1915 bei Gefechten zwischen Türken, Russen und Armeniern in Schutt und Asche gelegt – die neue Stadt wurde wenige Kilometer entfernt errichtet und wirkt mit ihren schlechten Straßen und hastig errichteten Häusern selbst in normalen Zeiten wie eine Behelfslösung.

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