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Versagen der Luftraumkontrolle. Angehörige 2002 am Unglücksort. Foto: dpa

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Panorama: Minuten des Schreckens

Was damals geschah, und was sich verändert hat. Zum Beispiel das Sicherheitsdenken in der Luftfahrt. Aber das reicht noch nicht.

Seit zehn Jahren ist nichts mehr wie es war, im malerischen Überlingen. Seit jenem Abend des 1. Juli 2002, als kurz vor Mitternacht plötzlich Feuer vom Nachthimmel regnete. Bei der Kollision zweier Flugzeuge über dem Bodensee starben 71 Menschen – in Folge von Schlamperei und menschlichem Versagen. Während die Angehörigen der Opfer heute an den Ort des Geschehens zurückkehren, ist die juristische Aufarbeitung der Katastrophe noch immer nicht abgeschlossen.

Es sollte ein Flug in die Ferien werden, eine Belohnung für 45 hochbegabte Schulkinder aus Ufa. Sie gehören zu den insgesamt 60 Fluggästen und neun Besatzungsmitgliedern der dreistrahligen Tupolew TU-154M der Bashkirian Airlines. Nach einer Zwischenlandung in Moskau befindet sich Flug BTC 2937 auf dem Weg nach Barcelona. Zur gleichen Zeit ist eine aus Bahrain kommende Frachtmaschine der Post-Tochter DHL als Flug DHX 611 in Richtung Brüssel gestartet. An Bord der zweistrahligen Boeing 757-200 befinden sich nur die beiden Piloten.

Der Luftraum im Südwesten der Bundesrepublik wird von Skyguide überwacht, der privatrechtlich organisierten, staatlichen Schweizer Flugsicherung. Im Züricher Kontrollzentrum versehen in dieser Nacht nur zwei Fluglotsen ihren Dienst. Einige technische Anlagen sind wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet, darunter auch das optische Kollisionswarnsystem. Wie üblich darf sich ein Lotse in der verkehrsschwachen Zeit in den Ruheraum begeben. Damit ist Peter N. allein im Dienst. Der Mann weiß nicht, dass er es neben den Überflügen auch noch mit der verspäteten Landung eines Airbus in Friedrichshafen zu tun bekommen wird und damit zwischen zwei Arbeitsplätzen pendeln muss.

Um 23.26 Uhr erteilt N. der DHL-Maschine die erbetene Freigabe für eine Flughöhe von 36 000 Fuß (10 973 Meter). Vier Minuten später meldet sich bei ihm die Tupolew-Besatzung ebenfalls auf 36 000 Fuß. Dem zugleich mit der Landung in Friedrichshafen befassten Lotsen fällt nicht auf, dass die beiden zu diesem Zeitpunkt noch etwa 118 Kilometer voneinander entfernten Flugzeuge in gleicher Höhe aufeinander zurasen.

Beide Flugzeuge sind mit einem Kollisionswarnsystem (TCAS) ausgestattet, das eigentlich narrensicher ist. In einer Konfliktsituation tauschen sich die Bordcomputer in Sekundenbruchteilen aus und erteilen den Piloten der einen Maschine das Kommando zum Steigflug und fordern die Besatzung der anderen Maschine zum Sinkflug auf.

Um 23.33 Uhr überschlagen sich die Ereignisse. Die Lotsen im benachbarten Kontrollzentrum Karlsruhe bemerken die drohende Kollision und versuchen die Schweizer Kollegen zu warnen. Doch in Zürich funktionieren auch die Telefone nicht. Eine Minute später erkennt N. die Gefahr und forderte die Tupolew-Besatzung zum Sinkflug auf, ist dann sofort wieder durch den landenden Airbus abgelenkt. Praktisch zeitgleich reagiert das TCAS an Bord der Maschinen. Es fordert die DHL-Besatzung zum Sink- und die Bashkirian-Crew zum Steigflug auf. Die Distanz zwischen den beiden Flugzeugen, die mit 360 Metern pro Sekunde aufeinander zurasen, hat den Grenzwert von 13 Kilometern erreicht. Die Boeing-Piloten reduzieren sofort die Flughöhe, während N. die russische Maschine erneut auffordert, ebenfalls zu sinken. Deren Piloten halten sich angesichts der Widersprüche zwischen Mensch und Maschine nach kurzem Disput an seine Anweisung. Sekunden später, um 23.35 Uhr kommt es in 10 634 Metern Höhe zur Kollision.

Bei dem Unglück hat auch Witali K. seine Frau sowie seine Kinder, den elfjährigen Konstantin und die vierjährige Diana, verloren. Vergeblich hofft er auf eine Entschuldigung der Verantwortlichen. Mit der Nüchternheit, in der die westliche Bürokratie damit umgeht, kommt seine russische Seele nicht zurecht. Am 24. Februar 2004 ersticht er den Fluglotsen Peter N.

Seine zunächst achtjährige Haftstrafe wird reduziert. 2007 kommt Witali K. frei und wird in seiner Heimat als Held gefeiert. Da hat das Bezirksgericht Bülach bereits festgestellt, dass Peter N. keine Alleinschuld trifft, wie es seine Vorgesetzten im Prozess darzustellen versuchten. Drei leitende Mitarbeiter von Skyguide werden zu Bewährungsstrafen wegen fahrlässiger Tötung verurteilt, ein vierter zu einer Geldbuße. Der Staatsanwalt wirft dem Unternehmen „Sorglosigkeit und mangelndes Risikobewusstsein“ vor. Ohne die geduldete Praxis der Anwesenheit nur eines Fluglotsen wäre das Unglück zu verhindern gewesen, befindet das Gericht.

Beim Oberlandesgericht in Karlsruhe befasst man sich weiter mit der Katastrophe. Das Landgericht Konstanz hatte einer Schadensersatzklage von Bashkirian Airlines gegen die Bundesrepublik stattgegeben. Danach muss Deutschland haften, weil die Beauftragung von Skyguide rechtswidrig war. Dagegen hat die Bundesregierung Berufung eingelegt. Skyguide kontrolliert indessen weiter den südwestdeutschen Luftraum. Noch bis zum Jahresende gilt eine Übergangsregelung, bis dahin muss die Zusammenarbeit durch einen Staatsvertrag geregelt sein. Denn es soll endlich ein gemeinsamer europäischer Luftraum entstehen. Der gemeinsam mit Belgien, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz gebildete Luftraumblock FABEC wird dagegen wohl erst 2018 voll funktionstüchtig sein.

„Der Flugunfall von Überlingen hat das Sicherheitsverständnis der schweizerischen und internationalen Luftfahrt grundlegend verändert“, erklärt Skyguide. Die Sicherheitsempfehlungen der Untersuchungsbehörden seien lückenlos umgesetzt worden.

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