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Missbrauch in Fluterschen: Ungesehen, ungeschehen

Wie konnte das verborgen bleiben? Warum schaut der Mensch weg, wenn er hinschauen sollte? Im kleinen Ort Fluterschen ereignete sich der größte Missbrauchsfall, den es je in Deutschland gab. Heute fällt ein Urteil – aber nur gegen den Täter.

Von Barbara Nolte

Er sitzt gleich neben der Tür. Damit er schnell rauskommt, wenn das Gericht Pause macht. Doch meistens schneiden ihm Journalisten den Weg ab. Dann wartet Markus S. geduldig, bis die Kameramänner ihre Stative aufgebaut haben und antwortet auf Fragen nach Detlef S., nach seinem Stiefvater.

Zu jedem Prozesstag ist Markus S. bislang nach Koblenz gekommen. 32 Jahre ist er alt. Er wirkt sehr schüchtern. Sein Gesicht ist blass, die Haare sind schon schütter geworden. Die vielen Kameras störten ihn, sagt er, aber er nimmt sie in Kauf. Der Stiefvater soll ihn von der Anklagebank aus hier im Gerichtssaal sitzen sehen. „Der soll sehen, dass er keine Macht mehr über mich hat.“

Der Stiefvater, der in der Familie so übermächtig war. Von den 1500 Euro, die Markus S. monatlich als Straßenbauer verdiente, musste er 1250 dem Stiefvater abgeben. Von den verbleibenden 250 habe er vor Jahren jeden Monat 100 zurückgelegt, um den Führerschein zu machen. Als er sich anmelden wollte, war das Konto leer. Vor vier Jahren ist Markus S. von der Familie weggezogen, da war er schon 28.

Warum so spät? Warum haben sie sich alle so viel gefallen lassen von Detlef S., einem nur einen Meter 60 großen, schmächtigen Mann, der drinnen im Gerichtssaal auf der Anklagebank sitzt? Denn es geht um sehr viel mehr als um gestohlenes Geld.

Detlef S. hat seine drei Stiefsöhne noch verprügelt, als die schon halbwüchsig waren. Seine Frau hat er sogar einmal ohnmächtig geschlagen. Damals war die jüngere Tochter blutend aus dem Badezimmer gekommen. Es war der Moment, in dem die verängstigte Familie kaum mehr verleugnen konnte, was Detlef S. den Töchtern antat: Er hat seine leibliche Tochter Jasmin und seine Stieftochter Natascha missbraucht. 15 Jahre lang, mehr als 160 Mal. Eine hochgerechnete Zahl, die der Staatsanwalt vor dem Landgericht Koblenz vorgetragen hat, wo in diesen Wochen Detlef S. der Prozess gemacht wurde. Natascha bekam in der Zeit acht Kinder vom Stiefvater, eines starb als Baby. Detlef S. soll die beiden Mädchen außerdem zur Prostitution gezwungen haben, da waren sie zwölf Jahre alt. Ein Missbrauchsverbrechen dieser Dimension hat es in Deutschland zuvor nie gegeben. Und es geschah vor aller Augen.

Die Familie S. lebte in einem kleinen Dorf, 700 Einwohner, in Fluterschen im Westerwald. Sie lebten dort zeitweise mit 15 Personen unter einem Dach. Vater und Mutter, die vier Kinder aus deren erster Ehe, die fünf gemeinsamen und die Kinder von Natascha. Es muss im Dorf aufgefallen sein, dass da ein Mädchen fast jedes Jahr schwanger war und nie einen Freund hatte. Einige Dorfbewohner sagten in der lokalen „Rhein-Zeitung“ dann auch, dass die Kinder wie „Klone“ von Detlef S. aussehen würden.

Wie konnte, was so offensichtlich war, so lange verborgen bleiben? Warum schaut der Mensch weg, wenn er hinschauen sollte?

Vom Rhein aus windet sich die Straße in engen Kurven die Hänge des Westerwaldes hinauf. Fluterschen liegt an einer offenen Bergflanke, inmitten von Äckern, die von matschigen Schneeresten bedeckt sind. Wenn man in diesen Wochen mit einem Auto mit ortsfremdem Kennzeichen die Dorfstraße entlangfährt, treibt man die Bewohner vor sich her und in ihre Hauseingänge hinein. Manche werfen einem noch einen Satz zu. „Das Jugendamt und die Polizei waren ständig bei denen. Es wurde doch alles getan“, sagt eine Frau. „Ist doch nicht verboten, Kinder mit der Stieftochter zu haben“, sagt eine andere. Was nur stimmt, wenn das Stiefkind volljährig ist, und Natascha war beim ersten Kind 17 Jahre alt.

Das so häufig gefilmte Fachwerkhaus der Familie S. liegt mitten im Ort. An der Hauswand wächst Moos. Die Rollläden sind heruntergelassen. Die Ehefrau von Detlef S. wohnt noch hier, zusammen mit Jasmin und einem ihrer jüngeren Söhne. Bald werden sie fortmüssen. Das Haus soll zwangsversteigert werden. Doch wer wird für ein Haus mit so einer Geschichte bieten?

Die Familie stoße im Dorf nicht auf Mitleid, sagt Markus S., sondern auf Ablehnung. „Die sagen, wir hätten das Dorf asozial gemacht.“

Bei der Familie S. habe es sich um eine klassische Langzeitarbeitslosenfamilie gehandelt, die im Landkreis oft umgezogen sei, bevor sie Ende der 90er Jahre in Fluterschen landete, erklärt Heijo Höfer, Bürgermeister der drei Kilometer entfernten und für Fluterschen zuständigen Kleinstadt Altenkirchen. Das Verhältnis zu den Alteingesessenen sei von „gegenseitiger Abgrenzung“ geprägt gewesen. „Die einen wollen mit den anderen nichts zu tun haben. Die anderen sind froh, in Ruhe gelassen zu werden.“

Dennoch gab es Anzeigen bei der Polizei, Hinweise ans Jugendamt: von Lehrern, Verwandten, auch von Nachbarn. Zwei dicke Ordner füllen die Aufzeichnungen des Jugendamtes Altenkirchen über die Familie S.. Bereits Ende der 90er Jahre meldete ein Onkel der Kinder, Natascha werde sexuell belästigt und ihr Bruder Sven geschlagen. Eine Spur, die nach Recherchen der zuständigen Sozialarbeiterin nicht weiterverfolgt wurde und nach einigen Monaten im Sande verlief. Im Jahr darauf sagten Nachbarn, dass Detlef S. seine Kinder verprügele. Auf diesen Hinweis erfolgte offenbar nichts, jedenfalls ist in den Akten nichts verzeichnet. Und schon im Jahr 2002 meldeten die jüngeren Brüder von Markus S., die da schon ausgezogen waren, was so augenfällig schien und über das heute das Landgericht Koblenz das Urteil spricht: dass Detlef S. der Vater von Nataschas Kindern sei, und dass er auch die leibliche Tochter Jasmin missbrauchen würde.

Der Leiter des Jugendamtes Altenkirchen, Hermann-Josef Greb, erinnert sich, wie Detlef S. damals in sein Büro gekommen sei. „Die sagen, ich wäre der Kindsvater“, habe er gesagt. Greb antwortete: „Mach’ einen Vaterschaftstest, dann hast du’s aus der Welt.“ Es klingt wie ein freundschaftlicher Rat.

Greb ist ein hagerer Mann mit dünnem Bart und sanfter Stimme. Er kannte Detlef S., seit der 16 Jahre alt war. Die Eltern von S. waren kurz hintereinander verstorben und Greb, damals junger Sozialarbeiter, betreute ihn, bis er volljährig war. Vielleicht glaubte er nach so vielen Jahren der Bekanntschaft, ihn zu kennen. Vielleicht wollte er auch nicht wahrhaben, dass der junge Mann, den er bei seinen ersten Schritten ins eigenständige Leben begleitet hatte, so verrohte.

Eine Sozialarbeiterin muss Detlef S. damals auf die Vorwürfe der Stiefsöhne angesprochen haben. Die Vaterschaft hat er offenbar abgestritten. Die Aktennotiz lautet: „Detlef S. ist nicht der Vater der Kinder.“ Vielleicht ist es verständlich, wenn Sozialarbeiter ihren Klienten nicht misstrauen wollen. Doch in diesem Fall war das so arglos, dass es schon fahrlässig war. Detlef S.sei immer bemüht gewesen, einen guten Eindruck zu machen, versucht sich Greb zu rechtfertigen. „Er ist immer allem nachgekommen, was wir von ihm verlangten.“

Im Großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts Koblenz schaut Detlef S. in die Zuschauerreihen, irgendwie neugierig, jedenfalls ohne Scham. Er trägt wie zu jedem Prozesstag ein schlackerndes, bordeauxrotes Zweireiherjackett und eine bunt gemusterte Krawatte. Staubsaugervertreter war er mal, bevor er arbeitslos wurde. Er spricht nicht vor Gericht, und so prallt der Blick immer wieder ab von diesem unscheinbaren Mann, der es offenbar verstand, die Sozialarbeiter einzuwickeln und seine Familie einzuschüchtern.

Zuhause sei Detlef S. allgegenwärtig gewesen, so schildert Markus S. den Fami- lienalltag im Haus in Fluterschen. Sie hätten sich gegen den Stiefvater „einfach nicht wehren“ können. Abends habe Detlef S. von den Söhnen verlangt, sich zu ihm zum Biertrinken an den Küchentisch zu setzen. Außenkontakte hatte er den Kindern verboten. Einmal, erzählt Markus S., sei er nach einer Geburtstagsfeier in der Firma erst um elf Uhr abends nach Hause gekommen. Da habe der Stiefvater mit der Holzstange, mit der der Speicher aufgestoßen wurde, auf ihn eingeprügelt.

Tagsüber sei Detlef S. oft mit dem Auto weggefahren, erinnert sich Markus S.: zum Einkaufen oder zu Behörden. Er zwang immer eines der Mädchen, ihn zu begleiten. Fahrten, die, wie jetzt bekannt ist, regelmäßig im Wald endeten, wo er die Mädchen vergewaltigte. Manchmal brachte er eine der Töchter auch zu Bekannten, an die er sie für 30 Euro vermietete. Zwei der Männer sind vor dem Landgericht geladen. Beide um die 60 Jahre alt, die Hosen und Hemden sorgfältig gebügelt. Biedere Familienväter, die sich nicht um das Alter der Mädchen scherten.

Die Mädchen haben sich nie einander anvertraut, nie jemand anderem, das ist das eigentlich Unbegreifliche an dem Verbrechen. Der psychiatrische Gutachter versucht die Verschwiegenheit von Natascha und Jasmin mit der Familiendynamik zu erklären. In der Familie hätten „Mauern der Angst“ geherrscht. Alle seien voneinander isoliert gewesen. Detlef S. habe seine Kinder „jedweder Persönlichkeitsentwicklung beraubt“. Erst als Natascha im vergangenen Sommer einen Brief von Jasmin fand, die darin Detlef S. des Missbrauchs beschuldigte, ließ sie den Stiefvater auffliegen.

Allein aus dem Prozessverlauf kommt der Sachverständige zu dieser Analyse. Denn im Gespräch, das er über Stunden mit Detlef S. führte, habe der sich als „treusorgender Vater“ gegeben. „Er habe gegenüber den Kindern immer zurückgesteckt, Treue sei ihm immer sehr wichtig gewesen, deshalb habe er ein schlechtes Gewissen gegenüber der Ehefrau, die die Leidtragende gewesen sei“, so referiert der Gutachter die Aussagen von Detlef S. in diesen Gesprächen. Der Sachverständige berichtet fast ein bisschen fasziniert von dessen „Sprachmelodie“, die „derart höflich und besorgt“ geklungen habe.

Doch der gefällige Vortrag mildert das Fazit des Gutachtens nicht: Detlef S. sei ein Mensch ohne „Opferempathie“, mit einer „sadistischen Komponente“. Er habe in der Familie eine „hoch strukturierte soziale Kontrolle ausgeübt“, und die Gefahr bestehe, dass er sich zu einem späteren Zeitpunkt ein ähnliches soziales System schaffe. Damit diktierte der Gutachter gleichsam das Plädoyer des Staatsanwaltes: 14 Jahre und sechs Monate Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung, forderte der vor der Urteilsverkündung am heutigen Dienstag. Der Anwalt von Detlef S. plädierte auf neun Jahre und sechs Monate Haft. Strafmildernd wollte er das umfassende Geständnis gewertet wissen, das er am gestrigen Montag im Namen seines Mandanten verlas. Detlef S., der zu Prozessbeginn alle Vorwürfe abgestritten hatte, gab darin nun alles zu.

Markus S. läuft nach der Verhandlung mit dem Handy am Ohr zum Bahnhof von Koblenz. Er hat gute Laune. „Ich würde mal sagen: Der Mann ist schachmatt“, sagt er ins Telefon. Er spricht mit seinem Bruder Björn, der eine verschleppte Lungenentzündung auskuriert. Auch Björn S. war zu den ersten Prozesstagen nach Koblenz gereist und hat dort den vielen Journalisten ausführlich Rede und Antwort gestanden. Die beiden missbrauchten Schwestern Natascha, die heute 28 Jahre alt ist, und Jasmin haben in einem Interview in der Illustrierten „Bunte“ von ihren neuen Freunden berichtet und von ihren Plänen für die Zukunft. Lange haben die Geschwister geschwiegen, jetzt sollte die Welt von ihrem Schicksal erfahren.

Mit einigen der Konsequenzen hatten sie dabei nicht gerechnet: Markus S. wurde von seiner Firma gekündigt, für die er elf Jahre lang als Straßenbauer gearbeitet hatte. Mit geschäftsschädigendem Verhalten begründete sein Chef die Kündigung. Sein Gesicht sei in letzter Zeit zu oft im Fernsehen zu sehen gewesen.

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