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Panorama: Mit Moses gegen die Flut

Ein Anti-Hochwasser-Projekt soll Venedig und seine Paläste künftig schützen

Nachts. Eine Winternacht. In Venedig. Ein einsamer Gondoliere fährt uns einen Kanal entlang. Rio nennt man in der Lagunenstadt die Straßen. Die Wasserstraßen. Er kommt vom Canale Grande her.

Durch den Rio di Noale erreichen wir den langen Rio della Misericordia. Am Campo della Misericordia, einem Platz beim prächtigen Barockpalazzo Lezze hält er kurz an. Der Platz steht unter Wasser. Es ist mucksmäuschenstill. Niemand ist unterwegs. Nur einige letzte Gondolieri machen sich auf den Weg nach Hause. Oder fahren die Liebhaber dieser Stille durch die schlafende Stadt.

Weiter geht unsere Gondelfahrt durch den Rio della Misericordia. Vorbei an Palästen und Kirchen, auf Bürgersteigen, die unter Wasser stehen und entlang an einfachen Bürgerhäusern, niedrige Häuser, deren Eingänge mit Stahlplatten gegen das eindringende Wasser geschützt sind. Nur wenige Fenster sind erleuchtet. Die meisten Menschen schlafen bereits, denn an Hochwassertagen verlassen viele Venezianer abends nicht mehr ihre Häuser.

In weiten Teilen der Stadt bewegt man sich bei Flut nur noch auf hölzernen Planken. Alte und gehbehinderte Menschen sind so gut wie gar nicht unterwegs. Für sie wäre es auch unmöglich, auf den nicht gerade breiten Planken zu gehen. Nicht selten fallen Venedigbesucher, die keine Übung im Balancieren haben, ins Wasser. Dann wird gelacht, denn schließlich erlebt man so etwas nicht alle Tage.

Für die meisten Venezianer aber sind Hochwasser alles andere als eine lustige Angelegenheit. „Jedes Hochwasser bedeutet eine Gefahr für die seit Jahrhunderten auf Millionen von Baumstämmen im Lagunengrund stehende Stadt mit ihren tausenden Palästen und hunderten Kirchen”, erklärt der venezianische Lokalhistoriker Enzo Marini. „Immer ist unklar“, klagt er, „wie hoch das Wasser ansteigen und welche Schäden es anrichten wird“.

Damit soll bald Schluss sein. Spätestens im Jahr 2008. Dann nämlich soll „Moses“ die Lagunenstadt vor den gefährlichen Hochwassern bewahren. „Moses“ – das ist der Name eines ehrgeizigen Schleusensytems. Mit Hilfe elektromechanischer Module sollen die Wassermassen von der Lagune abgehalten werden. Diese Module, zehn an der Zahl, treten bei steigendem Wasserspiegel in der Adria in Aktion. Durch eine computergesteuerte Schrägstellung verhindern sie das Einfließen von Wassermassen in die Lagune. An den Eingängen zur Lagune, die zwischen kilometerlangen und maximal 20 Meter breiten künstlichen und natürlichen Inseln liegen, sollen die zwischen 250 und 350 Tonnen schweren Eisenmodule installiert werden. „Anfang der 90er Jahre“, erklärt Massimo Cacciari, Philosoph und ehemaliger Bürgermeister von Venedig und selbst Hochwasseropfer, denn ein Teil seiner Wohnung liegt im Erdgeschoss, „wurde mit der Entwicklung von Moses begonnen“. Doch die Jahre vergingen und „niemand unternahm etwas“. Cacciari gehörte zu jenen italienischen Intellektuellen, die im Jahr 2000 die Weltkulturbehörde Unesco, dazu aufforderten, die italienische Regierung an ihre Pflichten zur Rettung des bedrohten Venedigs zu erinnern.

Die Unesco ließ sich nicht lange bitten. „Die schickten einen bösen Brief nach Rom“, erinnert sich Francesco Marin, aus dem venezianischen Stadtteil Cannareggio. Marin ist stolzer Besitzer eines leicht heruntergekommenen Palazzos. Viel Geld hat er nicht, um die rund 3000 Quadratmeter Wohnfläche zu restaurieren. Auch die nötigen Mittel, um die Fassade putzen zu lassen hat er nicht. An kostspielige Restaurierungsarbeiten an den in den Jahrhunderten von Hochwassern beschädigten Fundamenten gar nicht zu denken. „Ich begrüße deshalb das Projekt Moses“, sagt er, „es hilft den Status quo zu erhalten. Wir müssen dann nicht immer wieder Angst vor jedem Hochwasser haben“.

Ein Unternehmenskonsortium entwickelte schon 1992 das Projekt „Moses“. Verschiedene Regierungskommissionen begrüßten und verwarfen es und nichts kam voran. „Es war zum Heulen“, so Francesco Marin. Die Ingenieure des Konsortiums warnten: jedes Jahr kommt es in Venedig zu immer mehr und immer höheren Hochwassern: allein im letzten Jahr gab es 103 Hochwassertage, an denen der Wasserspiegel rund 80 Zentimeter anstieg.

Wenn in diesen Tagen der erste Spatenstich zum Bau der gigantischen Schleusen getan wird, dann freuen sich die meisten Venezianer. Sie hoffen, dass sie mit Hilfe von „Moses“ wieder ein normales Leben führen können. Massimo Cacciari ist davon überzeugt, dass „die ständigen Hochwasser einer der Gründe für die massenhafte Abwanderung von Venezianern auf das trockene Festland sind“. Die Touristen schreckt das Hochwasser natürlich auch ab. So hoffen die Gastwirte, dass zum venezianischen Karneval Anfang März Petrus die Sonne scheinen lässt. Dann braucht sich niemand über einen ins Wasser gefallenen Touristen amüsieren. Die prachtvollen Kostüme garantieren für genug Abwechslung.

Thomas Migge[Venedig]

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