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Moralforschung: Haltlose Haltungen

Selbst das Gegenteil einer eben geäußerten Überzeugung können Menschen sich zu eigen machen – mit überzeugenden Argumenten.

Sind Sie dafür, dass Telefonate und E-Mails überwacht werden dürfen, um Verbrechen und Terrorismus wirkungsvoll zu bekämpfen? Keine einfache Frage, aber wenn man sich einmal zu einer Meinung durchgerungen hat, sollte es doch ein Leichtes sein, sie sich zu merken. Und man wird sich schwertun, der Gegenposition zuzustimmen.

Wirklich? Mit einer trickreichen Studie haben schwedische Forscher nun nachgewiesen, dass Menschen manchmal schon Minuten später nicht mehr wissen, wo sie kurz zuvor in einer moralischen oder politischen Frage standen – und dass sie auch ganz anders können, nämlich im Extremfall die diametral entgegengesetzte Entscheidung plausibel begründen.

Die Kognitionspsychologen um Lars Hall von der Universität im schwedischen Lund haben für die Vorbereitung ihres Experiments den Rat eines Zauberkünstlers eingeholt. Mit dessen Hilfe haben sie Schreibunterlagen präpariert, auf denen sie 160 Passanten im Park kleine Fragebogen zu moralisch brisanten Themen präsentierten. Die Clipboards hatten auf der Rückseite eine kleine Klebefläche. Blätterten die Versuchsteilnehmer nach dem Ausfüllen das ebenfalls präparierte erste Blatt nach hinten, um sich an das Ausfüllen des zweiten Blattes zu machen, so blieb dort ein Stück Text kleben: Ein Aufkleber, der die Fragen zu Teil eins enthielt. Darunter erschienen nun auf dem Blatt die Fragen, nur in ihr Gegenteil verkehrt – während die Antworten im Durchschlag gleich geblieben waren. Gegner der Telefonüberwachung waren dadurch zu Befürwortern geworden und umgekehrt. Im Anschluss an das Ausfüllen gingen die Forscher die Fragebögen mit den Probanden durch und baten sie dabei um Begründungen für ihre Ansichten. Und siehe da: Die Mehrheit von ihnen zuckte nicht mit der Wimper, als sie die durch den Trick verwandelte „eigene“ Meinung begründeten. „Die Teilnehmer konstruierten oft logische und klare Argumente, mit denen sie das Gegenteil ihrer ursprünglichen Position unterstützten“, berichten die Autoren. Sie sehen darin „ein dramatisches Potenzial für Flexibilität in unseren moralischen Haltungen“.

Ob man so weit gehen kann, bleibt die Frage. Denn die Teilnehmer des Tests bekundeten den Grad ihrer Zustimmung zu einer Aussage auf einer Skala zwischen eins und neun. Wer im Mittelfeld lag, dessen Ansichten wurden durch die Veränderung der Frage also nicht in ihr Gegenteil verkehrt. Und immerhin zwei Drittel der Teilnehmer mit dezidierten Antworten am einen oder anderen Ende der Skala wurden angesichts der manipulierten Bögen stutzig und sagten, sie hätten wohl falsch angekreuzt.

Es ist nicht ihr erstes Experiment zu einem Phänomen, das sie „Wahlblindheit“ nennen. Das veröffentlichten sie 2005 in der Fachzeitschrift „Science“: 50 Männer und 70 Frauen bekamen jeweils zwei Fotos mit Frauengesichtern vorgelegt und sollten dasjenige auswählen, das sie als attraktiver empfanden. Als sie ihre Entscheidung anschließend begründen sollten, hatten sie – wiederum dank der Mithilfe des Magiers – das andere Foto in der Hand. Und legten anstandslos dar, warum gerade diese Dame ihnen besser gefiel. „Sie sieht einer Tante von mir so ähnlich. Sie ist hübscher als die zweite Frau.“ Nur jeder Vierte bemerkte den Austausch. Die Forscher sind stolz darauf, dass nur zwei von ihnen den Trick entlarvten.

Was verblüfft, ist die argumentative Verve, mit der Menschen im Nachhinein eine Wahl begründen, wenn sie sie nur für ihre eigene halten. Die schwedischen Forscher vermuten, dass ihre Versuchsteilnehmer die Anstrengungen vor allem unternahmen, um sich selbst von der Richtigkeit ihrer vermeintlichen Präferenzen zu überzeugen.

Das passt zu einem Klassiker der psychologischen Begriffsbildung, den der USPsychologe Leon Festinger im Jahr 1957 prägte, der sogenannten kognitiven Dissonanz: Unzählige argumentative Winkelzüge, die den menschlichen Alltag bestimmen, gehen demnach darauf zurück, dass wir Unstimmigkeiten zwischen einzelnen Elementen unseres Wertesystems, unserer Einsichten und unseres Verhaltens nicht gut aushalten – und alles tun, um sie zu beseitigen. Adelheid Müller-Lissner

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