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In der Kirche in Bodenfelde fanden sich die Menschen zu einem Trauergottesdienst zusammen.

© dapd

Morde in Bodenfelde: Das Dorf und das Böse

Drei Tage lang war in Bodenfelde das zu spüren, wovon derzeit in anderen Zusammenhängen viel geredet wird: Nach zwei Morden herrscht Angst im Dorf. Dann wurde ein Verdächtiger verhaftet. Aber die Angst ist deshalb nicht weg.

Polizeisprache kann grausam sein. „Pressekonferenz anlässlich des Tötungsdeliktes zum Nachteil eines 13-jährigen Jungen und einer 14-jährigen Jugendlichen in Bodenfelde“ ist die Einladung der Polizei überschrieben.

Es ist Mittwoch, zehn Uhr morgens, Tag drei nach dem Fund der beiden Kinderleichen im kleinen Bodenfelde, Niedersachsen, Tag eins nachdem die Ermittler einen festgenommen haben, den sie für den Mörder halten, Haftbefehl erteilt, jetzt sitzt er in U-Haft: Jan O., 26 Jahre alt, aus einem Nachbarort, arbeitslos, vorbestraft wegen schwerer Diebstähle. Sie sind erleichtert, die Bewohner des Dorfes, die tagelang in Furcht vor einem Unbekannten lebten, die ihre Kinder nicht unbehütet aus den Häusern ließen. Doch ein Rest der Angst, er bleibt.

Schon wieder Bodenfelde also. Das ist unheimlich. So wenige Menschen, kaum 3500. Und so viele Morde. Erst vor drei Jahren war hier die Schwarze Witwe aufgeflogen. Die Rentnerin Lydia L., die Senioren anlockte, zur Ehe verführte und dann töten ließ von einem ihr ergebenen Partner. Vier Männer wurden zwischen 1994 und 2000 gemeuchelt. Und Lydia L. war in jenen Jahren auch Bürgerin in Bodenfelde, zwar nicht sonderlich beliebt, aber wohnhaft Dammstraße, nicht weit weg vom Friedhof, wo sich das neuerliche Grauen zutrug. Ist da etwas an diesem Ort?

Am Mittwoch spricht Kriminaldirektor Andreas Borchert von einem Täter mit dem „Potenzial eines Massenmörders“, die Staatsanwaltschaft teilt mit, der Verdächtige habe für Freitag ein Geständnis durch seinen Anwalt angekündigt. Ermittler Hartmut Reinecke sieht man die Erschöpfung an. Er hat in den vergangenen Nächten jeweils nur drei Stunden geschlafen. Er sagt, dass er davon ausgehe, dass der Täter psychisch krank sei. Er sei sich aber sicher, dass sie den Richtigen geschnappt hätten. „Ich bin wirklich froh, dass die Bodenfelder nun wieder ruhig schlafen können.“ Dann geht er, endlich auch ausschlafen.

Jan O., das glauben diejenigen, die ihn verhafteten, handelte aus purer Mordlust. Sie sagen: Mordlust.

Berufsmäßige Mordmotivforscher sagen, das sei ein seltenes Motiv. Der Wiesbadener Kriminologe Rudolf Egg nennt zwei Serienmörder, die Mordlust trieb: Jürgen Bartsch, der in den 60er Jahren Jungs „abschlachten“ wollte, vier kleine Jungen in einem Bunker bei Langenberg in Nordrhein-Westfalen sexuell misshandelte, tötete und die Leichen zerstückelte. Bei seiner ersten Tat war Bartsch 15 Jahre alt, mit 19 wurde er gefasst, nachdem einem Opfer die Flucht gelungen war. Als Strafgefangener starb er bei der selbst gewünschten Kastrationsoperation.

In den 90er Jahren dann der Rhein- Ruhr-Ripper Frank Gust: Als Jugendlicher war der in Leichenschauhäuser eingebrochen, wo er sich an Toten verging. Er ermordete zwischen 1994 und 1998 vier Frauen. „Seine Fantasien hatten mit dem geöffneten Körper zu tun“, sagt Egg. Diese gipfelten in der Vorstellung, dass er sich direkt am pochenden Herzen wärme, Egg: „eine perverse Form von Nähe und Wärme“. Solche Täter seien im Grunde nicht behandel-, nicht heilbar.

Auch Jan O., das glauben die Ermittler zu wissen, könnte schon den nächsten Mord geplant haben. Noch bevor er fünf Tage nach Nina Tobias tötete, sprach er am späten Sonnabend ein weiteres junges Mädchen an. Das sich allerdings direkt bei der Polizei meldete.

Jan O., der aus Uelzen stammt, war zuletzt wegen seines Drogenkonsums in einer Entziehungsanstalt in der Nähe von Bodenfelde untergebracht gewesen. Dort sah man ihn auf einem guten Wege. Nur die Probleme mit dem Alkohol seien geblieben. Von einem gewalttätigen Charakter spricht dagegen der Vater von Jan O.. Der Onlineausgabe der in Uelzen erscheinenden „Allgemeinen Zeitung“ sagte er, dass er selbst schon seit Jahren „nicht fertig geworden“ sei mit dem Sohn, der bereits in der zweiten Klasse seine Mitschüler angegriffen habe. Zu den beiden Morden sagte er: „Ich kann mir vorstellen, dass es Jan war.“

Der Montag vor einer Woche ist ein trüber Novemberabend in Bodenfelde. Zwischen den Fachwerkhäusern ist es ruhig, wie meistens um diese Zeit sind die kleinen Dorfstraßen leer, da will Nina, 14, noch einmal raus. Vielleicht nach ihrem Pferd schauen. Sie kommt nicht zurück. Die Polizei wird alarmiert und sucht nach ihr.

Doch Klassenkameraden behaupten, sie hätten Nina gesehen, niemand sorgt sich ernsthaft, schließlich ist sie schon öfter abgehauen, die Familienverhältnisse gelten als schwierig.

Ob Tobias vom Verschwinden Ninas wusste? Die beiden Teenager besuchten dieselbe Schule, hatten aber nichts miteinander zu tun. Tobias geht in die Klasse 8c der Gesamtschule, er macht Leichtathletik und besucht den Konfirmandenunterricht. Als am Samstagabend ein Freund von Tobias zum Abendessen im Nachbarort aufbrechen will, zieht sich Tobias seine Rollerblades und eine blaue Jacke an und bringt ihn zum Bahnhof. Es ist kein weiter Weg. Als der Kumpel in den Zug gestiegen ist, macht sich Tobias gegen 20 Uhr auf den Heimweg.

Dort am Bahnhof wird er ein letztes Mal lebend gesehen. Später am Abend machen Tobias’ Eltern sich Sorgen. Wo bleibt er? Er ist doch ein verlässlicher Junge. Die Mutter begibt sich auf die Suche, allerdings erfolglos. Noch in der Nacht ruft sie die Polizei an, meldet ihren Jungen als vermisst. Die Beamten starten eine zweite Suchaktion nach einem Teenager innerhalb einer Woche im kleinen Bodenfelde.

Am Sonntagvormittag dann wollen Tobias Eltern nicht mehr auf das warten, was die Polizei erreicht. Sie alarmieren Freunde und Verwandte und suchen das Dorf ab. Gegen zwölf Uhr gehen die Mutter und ein 17-jähriger Sohn von Freunden in ein kleines Wäldchen am Mühlenbach. Das Wäldchen ist unbenutzt, der Besitzer kann es nicht verkaufen, weil Altlasten im Boden schlummern. Dort am Trampelpfad neben dem Bach liegt Tobias. Er ist halb entblößt, mit Blut und Matsch beschmiert. Messerstiche haben seinen Körper schlimm zugerichtet. Er ist tot.

Nur wenige Meter entfernt im Gehölz finden die Polizisten kurz darauf auch die Leiche von Nina. Auch sie wurde mit einem Messer verletzt. Die Autopsie ergibt am Montagnachmittag für beide Teenager, dass kein Sexualdelikt vorliegt – und als Todesursache: „Eine Kombination aus Erwürgen und Erstechen.“ Das Entsetzen bricht herein in den Ort.

Wer ist der Mörder? Waren es vielleicht sogar zwei? Wird er, werden sie wieder zuschlagen? Wann, wo, wen werden sie erwischen? Sie haben Angst in Bodenfelde, wieder einmal. „Vielleicht ist es ja einer von uns“, sagt eine alte Frau im Ort.

Bodenfelde, staatlich anerkannter Erholungsort im Weserbergland, am Rande auch der Deutschen Märchenstraße: Der Rattenfänger von Hameln, Aschenputtel, der Lügenbaron von Münchhausen, sie alle kamen hier lang. „Lassen Sie sich verzaubern!“, rufen die Bodenfelder den Touristen auf der Dorfhomepage zu. Und nun ist mitten im Ort Unheimliches geschehen. Kein Märchen, erdacht und erfunden. Ein Verbrechen. An einem kleinen Bach, mit Spuren in Matsch und Schlamm, denen eine eiligst gegründete, 23 Mann starke Ermittlerkommission nachgeht. Sie sperren das Gelände um den Fundort der Leichen ab. In deren Nähe finden sie ein Handy, Tobias Rollerblades liegen im Bach.

Ein Handy führt dann auch zum Täter. Am Tag zuvor, am späten Sonnabend, Nina ist schon tot, Tobias lebt noch, spricht Jan O. auf einem Parkplatz in Bodenfelde ein deutlich jüngeres Mädchen an. Er hat eine Bierflasche in der Hand, wahrscheinlich trägt er eine schwarze Bomberjacke, Jeans und Turnschuhe. Das Mädchen ist zunächst freundlich, die beiden kommen ins Gespräch. Irgendwann sagt Jan O., sie könnten sich ja mal verabreden und fragt nach ihrer Handynummer. Der Jugendlichen wird mulmig, das erzählt sie später der Polizei. Sie lässt sich deshalb nur seine Nummer geben, verabschiedet sich – und meldet die Begegnung der Polizei. Die sagt, man könne nicht ausschließen, dass sie zum dritten Opfer geworden wäre.

Der Besitzer des Telefons ist schnell ermittelt, am Montag ist sich Kommissar Reinecke sicher. Jan O. wird am Abend festgenommen. Zum Tatvorwurf schweigt er. In seiner Wohnung finden die Beamten eine Bomberjacke, zwei Jeanshosen und zwei paar Schuhe. An denen klebt Matsch – und auch Blut.

Die Tage, in denen Nina und Tobias verschwanden und klar wurde, dass ein Verbrechen geschehen war, waren auch die Tage, in denen im fernen Berlin von geplanten Terrorattacken auf Deutschland die Rede war und von Angst in der Bevölkerung, die aber so ungreifbar blieb wie die Gefahr unkonkret. In Bodenfelde dagegen war die Angst sichtbar. Weil draußen sein auf einmal potenziell gefährlich war, blieb man drinnen, sorgte vor, versteckte sich. Man richtete sein Leben aus an der Angst, die alle ergriffen hatte.

Und so ist die Erleichterung, die jetzt, nach der Festnahme von Jan O., natürlich groß ist, doch getrübt. Von der schlimmen Erfahrung, die gemacht wurde. Von einem tödlichen Schrecken, der tief in die Menschen hineingefahren ist.

Dirk Schmaler

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