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Heute wohnen knapp 3000 Tschechen in Theresienstadt.

© Deike Diening

Musikalisches Gedenken an Theresienstadt: Der Widerhall

Kann Musik Leben retten? Ja, sagt man in Theresienstadt. Wenn sie Zuversicht gibt. Verdis Requiem, das einst den Insassen des Ghettos half, ihre Umstände kurz zu vergessen, dient heute dem Erinnern.

Felix Kolmer, Akustikprofessor, steht in einem gesichtslosen Keller in Theresienstadt nordwestlich von Prag und sagt, drei Sekunden Nachhall, das sei für einen Chorraum eigentlich ideal.

Felix Kolmer, Pfadfinder seit 1932, hebt die Hand zum internationalen Gruß: Sein Daumen stützt den kleinen Finger, und damit der Starke den Schwachen.

Felix Kolmer, er hat auch Auschwitz überlebt, leert am Mittag in der Kantine des Museums Theresienstadt auch noch die Suppentasse seiner Frau bis auf den letzten Tropfen.

3,8 Kilometer doppelte Festungsmauern liegen sternförmig um die gesamte Stadt. Es ist fast unmöglich, innerhalb der Garnisonsstadt ihre Begrenzung aus dem Auge zu verlieren. Ideal für ein Gefängnis. Am Marktplatz die Haltestelle für den Bus nach Prag. Eine Pizzeria. Knapp 3000 tschechische Zeitgenossen leben hier, die ihre Autos am Straßenrand geparkt haben. Ein Vietnamese betreibt einen zentralen Lebensmittelladen am Marktplatz. Eine psychiatrische Klinik schickt ihre Patienten spazieren. Noch immer ist Theresienstadt ein Ort für Benachteiligte.

Von 1941 war die Stadt vier Jahre lang ein Ghetto für mehr als 140 000 Inhaftierte, 33 500 starben hier, 88 000 wurden deportiert. Felix Kolmer, 91, hält die Musik, die in Theresienstadt gespielt und gesungen wurde, Verdis „Messa da Requiem“ vor allem, dieses anspruchsvolle Chorwerk für 150 Sänger, für nichts weniger als eine Technik des Überlebens.

Theresienstadt galt als „Künstlerghetto“

Denn wie es Todesarten gab, so gab es Überlebenstechniken, und die Musik, die war hier in Theresienstadt bis zu einem völlig unwahrscheinlichen, derart professionellen Grade ausgeprägt, dass ihr Nachhall noch heute zu hören ist. Dass der amerikanische Dirigent Murry Sidlin heute mit dem Stück durch die Welt tourt und das Erinnern betreibt, am 4. März im Konzerthaus in Berlin. Und doch hat damals, am 23. Juni 1944, eine letzte Aufführung mit dafür gesorgt, das Rote Kreuz glauben zu machen, dass es allen hier gut gehe und Theresienstadt eine normale Provinzstadt sei mit ausgeprägter Kultur.

Denn Theresienstadt galt als „Künstlerghetto“, mit Malern, Komponisten und Musikern aus Prag. Der 36-jährige Prager Pianist und Dirigent Rafael Schächter fand in ebenjenem Keller, in dem 70 Jahre später Felix Kolmer steht, ein Klavier mit abgesägten Füßen, geeignet für Chorproben, vermutlich zurückgelassen von der Zivilbevölkerung, die die Stadt verlassen musste, damit das Ghetto entstehen konnte. Das Ghetto, das Kolmer mit aufgebaut hat.

Am 24. November 1941 sollte sich der 19-jährige Felix Kolmer am Prager Bahnhof einfinden. „Wir wussten gar nicht, dass wir in ein Konzentrationslager fahren.“ 43 junge Burschen Anfang 20, jeder hatte einen Rucksack „und jeder hatte gedacht, am Samstag kommen wir wieder nach Hause“. Es war so friedlich, sagt Kolmer. Wie auf einem Ausflug. Sie fanden Stroh in dieser ummauerten Stadt, und das pressten sie sich in Säcke. „Das war für uns ein größeres Abenteuer“, anfangs, „wir hatten ja gar nicht gedacht, dass wir jetzt wirklich Häftlinge seien“.

Der fast ausgelernte Tischler baute mehrstöckige Betten, je nach Raumhöhe, erst in die Kasernen, dann in die Häuser. An den drei Ausgängen baute er kleine Häuschen, Regenschutz für die Wachleute. Er baute für Galgen die Treppchen. Es war der technische Umbau einer Stadt für 60 000 Häftlinge, ausgelegt für 7000.

Warum ausgerechnet Verdi?

Wie kamen sie dazu, hier Verdis Requiem zu singen? Ein derartig anspruchsvolles Chorstück? Warum ausgerechnet Verdi, hatte da etwa jemand eine zynische italienische Mussolini-Freundschaft anspielen wollen? Wer hatte die Juden gezwungen, ihr eigenes Requiem zu singen, eine katholische Messe?

Niemand.

Anders als in anderen KZs war die Musik in Theresienstadt keine bestellte Gaudi, bei der die talentiertesten Musiker für die Unterdrücker tanzen und damit ihr Leben tageweise verlängern konnten. Sie diente nicht dem Amüsement der Nazis. Sondern sie entstand aus dem inneren Bedürfnis der Häftlinge heraus.

„Die Pessimisten überlebten nicht“, sagt Kolmer. „Ich muss, ich werde, und ich will überleben, das musste man jeden Tag in jedem Moment denken – wer das nicht konnte, der starb.“ Die Jungen dachten, sie sterben nicht, aber die Alten hatten Angst vor der Trennung ihrer Familien, sie hatten Angst vor den Transporten nach Osten. „Meine freiwillige Arbeit im Lager war, ihnen zu sagen: Du überlebst. Ich war ja Pfadfinder. Ich hatte ja geschworen, den Schwachen zu helfen.“

Das war Kolmers Methode. Die von Schächter arbeitete mit anderen Mitteln, zielte aber auf das Gleiche.

Musik kann man notieren. Aber man muss sie immer wieder beatmen

Akustikprofessor Felix Kolmer.
Akustikprofessor Felix Kolmer.

© Deike Diening

Schächter sei besonders streng gewesen mit seinen Musikern, und gerade dies habe dazu beigetragen, dass das Requiem in allem das Gegenteil zu ihrem Alltag werden konnte: klare Kriterien statt Willkür, Schaffen statt Zerstörung, Verfeinerung statt Verrohung, Zusammenhalt statt Vereinsamung, Konzentration statt Verwirrung. Sie probten nach zwölfstündigen Arbeitstagen ohne Heizung mit nackten Füßen in Holzpantinen. Alleine die Unwahrscheinlichkeit, unter den Bedingungen eine ernst zu nehmende, geradezu professionelle Singstimme zu bewahren! „Die Musik hat sie gestützt im Widerstand gegen das Schicksal“, sagt Kolmer. Er nennt es „Kulturwiderstand“.

Jeder, der ins Ghetto kam, musste vorher sein Leben auf 50 Kilogramm Gepäck reduzieren. Rafael Schächter hatte Noten dabei. Aber die Fähigkeiten, die sie alle mitbrachten, zeigten auf der Kofferwaage der Nazis keinen Ausschlag. Sie waren unsichtbar, und am Ende waren sie für viele doch in der Lage, ein Gegengewicht zu bilden und ungeheures Leid aufzuwiegen. Die Musik half ihnen, sich daran zu erinnern, dass sie Menschen waren, sagt Dagmar Lieblová.

Das erste, das Dagmar Lieblová von dem Dirigenten Schächter in Theresienstadt hörte, war Smetanas „Verkaufte Braut“. In einer Turnhalle. „Das waren Lieder, die alle Tschechen kannten.“ Anderthalb Stunden, sagt sie, waren sie weg. Weg aus Theresienstadt, weg vom Arbeitsdienst, der Ungewissheit, dem Hunger, wieder in ihrem alten Leben.

Alles war ohne Noten

Dagmar Lieblová, 84 Jahre alt, ist fünf Jahre zur Schule gegangen, dann landete sie mit ihren Eltern, der Großmutter und der jüngeren Schwester für ein Jahr in Theresienstadt, in einem Haus mit 300 Mädchen, in einem Schlafsaal mit 24, die Betreuerin sang in Schächters Requiem später eine Hauptrolle.

„Das Sonderbare: Alles war ohne Noten. Die Leute haben das ganze Stück auswendig gelernt. Auf Latein.“ Stück für Stück setzte Schächter sein Puzzle zusammen, 150 Leute, über 80 Minuten Aufführungszeit, und auf ihrer Pritsche im Schlafsaal hörte die 14-jährige Dagmar Lieblová das Echo des Requiems, als die Betreuerin übte. Bei der Premiere war Lieblová schon nach Auschwitz abtransportiert worden.

Dagmar Lieblová nimmt das Gebrodel im Prager Art-déco-Café Imperial, an dessen Kacheln der Schall dutzender Gästestimmen reflektiert, gar nicht wahr. Sie erzählt von der Kinderoper „Brundibár“, in deren Chor sie damals sang. „Brundibár ist ein Märchen, aber für uns war es ein Märchen von einer normalen Zeit, in der es Geschichten und Schule gab.“

Die Schule war für Juden in Prag seit 1940 verboten. Deshalb haben die jüdischen Betreuer, die die Kinder nach der Arbeit in Theresienstadt unterrichteten, immer nur vom „Programm“ gesprochen. Es war durch die Häftlinge selbst organisiert, wie fast der gesamte Alltag im Ghetto. Im Nachhinein erscheint es unglaublich, dass es möglich war, ein Lager von dieser Größe mit nur 28 SS-Leuten zu bewachen, denen 200 tschechische Gendarmen zu Hilfe standen. Das lag einerseits an der Festungsarchitektur, aber auch an dem geschickten Einsatz des Ältestenrates, der für die Selbstorganisation des Ghettos zuständig war, aber auch die Listen für die Transporte gen Osten fertigstellen musste.

Musik als Mahnung gedachte Erinnerung

Lieblová ist die einzige aus ihrer Familie, die den Holocaust überlebt hat. Sie hat dann Deutsch studiert, weil den Kommunisten in Prag Englisch verdächtig war. Sie lehrte an der Sprachschule, dann 20 Jahre an der Uni, bekam zwei Töchter und einen Sohn, denen sie die Lieder aus „Brundibár“ vorsang, als sie klein waren. Sie singt: „Wer nicht zum Arzt geht, der muss zum Milchmann, denn Milch ist gesund.“ Und: „Einen Liter Milch gibt er ihnen in den Topf – aber ohne Geld nicht einmal einen Löffel für die Katze.“

Vielleicht war diese frühe Prägung der Grund, weshalb ihre älteste Tochter, eine Psychologin, die seit über 20 Jahren in Kanada lebt, plötzlich dem Impuls nachgab, „Brundibár“ mit einem Kinderchor wieder aufzuführen. Sie suchte im Telefonbuch einen Chorleiter. Im Mai 2005 war in der Provinz Saskatschewan Premiere. Mit dem Stück tourt sie jetzt durch die Welt.

Musik kann man notieren. Aber man muss sie immer wieder beatmen. Und immer wieder ist sie mit den Absichten, dem Temperament, dem Geist der Zeit gefüllt, in der sie gespielt wird. So wird aus dem Betäubungsmittel im Ghetto für die nächste Generation ein unschuldiges Kinderlied. Und später wieder eine als Mahnung gedachte Erinnerung.

Jede Deportation riss Löcher in den Chor. Wieder und wieder

Das Requiem war das Beste, was sie hatten. Und das Beste war gerade gut genug. Es war 16 Mal aufgeführt worden, und immer, wenn Deportationen große Lücken in seinen Chor rissen, füllte Schächter sie mit neuen Stimmen auf. „Bei der letzten Vorstellung haben sie das Requiem für sich selbst gesungen“, sagt Felix Kolmer.

Das Rote Kreuz hatte seinen Besuch angekündigt, und die Nazis präsentierten das singende, klingende KZ.

Beim Roten Kreuz wunderte man sich, warum von der Anfrage bis zur Besuchserlaubnis so lange Zeit verging. Aber für diese Verzögerung gab es Gründe: die „Verschönerung“. Schließlich mussten erst noch 40 000 Menschen in die Vernichtungslager abtransportiert werden, bevor die überfüllte Stadt den Kommandanten überhaupt präsentabel erschien.

Die Straßen, bislang nur mit Buchstaben benannt, erhielten hübsche Namen. Schilder wurden gepinselt. Man richtete Läden ein. Bestückt wurden sie mit Gegenständen aus dem Gepäck der ankommenden Transporte. Der Marktplatz erhielt einen Musikpavillon.

Alle haben gewusst, dass das ein Täuschungsmanöver werden sollte für das Rote Kreuz, sagt Kolmer. Es wurde ja einstudiert. Es wurde ihnen gesagt, was sie zu sagen hatten, zu tragen. Eine perfekte Choreografie, die hielt, so lange die Delegation ab 12 Uhr mittags dort war.

„Wir singen ihnen ins Gesicht, was wir ihnen nicht sagen können“

Kolmer selbst, wie immer: MTK. Männertransportkolonne. Die Lebensmittel vom Zentrallager in die 12 Küchen bringen, Fleisch in die Fleischerei oder das fertige Essen zu den Alten.

Alle Fenster mussten geschlossen werden an diesem Tag. Als die Kommission vorbeiging, fiel im Innenhof der Kaserne bei einem Fußballspiel ein Tor. Kindern wurden Butterbrote ausgeteilt. Leute posierten in Wohnungen, die noch in der Nacht zuvor mit Gardinen, Bildern und Möbeln ausgestattet worden waren.

Aber als das Requiem mit den übrig gebliebenen 60 Sängern aufgeführt wurde, hofften einige, dass sich die Wut, die Anklage mitteilte. „Wir singen ihnen ins Gesicht, was wir ihnen nicht sagen können“, hatte Schächter gesagt. Dass dort 60 herausgeputzte Juden mit einer katholischen Totenmesse mit lateinischem Text wörtlich verstanden werden wollten? Der Hilferuf musste verhallen.

Ihre Darbietung sorgte mit dafür, dass sie eben nicht gerettet wurden. Die Fassade vom geschönten Dorf wirkte. Sie wurden hier nicht nur getäuscht, sie waren auch noch Teil der Täuschung für die anderen.

Der 27-jährige Delegierte des Roten Kreuzes, der Schweizer Maurice Rossel, schrieb in seinem Bericht: „Es gibt sicher kaum eine Bevölkerung, die so gut versorgt wird wie die von Theresienstadt.“

Die Musik, die Kunst, sie war zugleich innerste Zuflucht der Opfer und Maskerade für die Täter. Hat man da überhaupt mitmachen dürfen? Und damit aktiv an der Täuschung teilhaben? War das nicht auch Verrat?

Missbrauchen lässt sich schließlich alles. Auch ein Musikstück. Felix Kolmer sitzt 70 Jahre später in Prag auf einem Velourssofa unter einem Ölbild von Tulpen und pustet den Einwand mit einem Atemzug beiseite. Eine dieser theoretischen Fragen, die nur Leute mit 70 Jahren Abstand stellen. „Wir hatten andere Sorgen.“

Es heißt, diejenigen, die reden, leben länger

Schon mit dem nächsten Transport wurden nach dem Besuch der Delegation auch die übrig gebliebenen Chormitglieder samt ihres Leiters Rafael Schächter deportiert. Kolmer fuhr im selben Waggon mit Schächter nach Auschwitz. Der Dirigent kam schon an der Rampe in die falsche Schlange. Für Kolmer bedeutete Auschwitz: 300 Kalorien pro Tag statt 1000.

Eine geglückte Flucht, eine wiedergefundene Frau, zwei Söhne, eine Professur später hat Kolmer damit begonnen, zu erzählen. Kolmer hat auch an den Verhandlungen über die Entschädigungen für die Opfer des Zweiten Weltkriegs teilgenommen, er redet seit Jahren über seine Zeit in Theresienstadt. Es heißt, diejenigen, die reden, leben länger.

Aber wie wandelbar die Musik ist, wie sehr sie den Absichten ihrer Interpreten unterworfen ist, sieht man schon daran, dass jene Musik, die im Ghetto dem Vergessen der Umstände dienen sollte, jetzt ihrem Erinnern dient.

Denn es ist natürlich niemals dasselbe Stück. Es schwingen heute mit: 70 Jahre Erzählung über den Holocaust. Temperament und Absicht von Musikern und Dirigenten. Die Person des Dirigenten Murry Sidlin, der sich das Stück ebenso zu eigen gemacht haben wird wie damals Rafael Schächter.

Felix Kolmer wird für den 4. März einen Zug nach Berlin nehmen. In seiner Eigenschaft als Vizepräsident des internationalen Auschwitz-Komitees wird er im Konzerthaus am Gendarmenmarkt Platz nehmen. Der Saal hat 2,7 Sekunden Nachhallzeit. Aber was Kolmer hören wird, wird nicht das gleiche Requiem, sondern eine völlig andere Musik sein.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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